Unsere Gross- und Urgrossväter pflegten sich an dinglich messbaren, in der Wirklichkeit verankerten Werten zu orientieren. Meistens konnten sie sich mit ihren Aufgaben identifizieren und hielten ihre Arbeit für sinnvoll.  

In der heutigen Welt verwenden wir oft relativierende statt absolute Werte, wir hantieren mit abstrakten Symbolen und werden durch ein komplexes Netz von finanziellen Abhängigkeiten zu Handlungen gezwungen, die manchmal gegen unsere menschlichen Überzeugungen verstossen.

Dafür gibt es viele Beispiele. Früher war ein Schuster zufrieden, wenn ihm seine Erzeugnisse gelungen waren und er sie verkaufen konnte. Er war immer noch zufrieden, wenn, dem lieben Gott sei Dank, sein Verdienst im nächsten Jahr auch noch gleich gut ausfiel. Seine Zufriedenheit oder Sorgen bezogen sich auf absolute und verständliche Ergebnisse, nämlich auf die angefertigten und verkauften Schuhe. Seine Arbeit gab ihm dazu noch eine wahre Befriedigung; die besten Quadratlatschen in der Stadt zu schustern, war ein Beweis seiner Fähigkeiten und darauf konnte er stolz sein. Der Konkurrenzkampf spielte sich mit Kollegen im Dorf ab, diese mussten aber mit dem gleichen Wasser kochen. Zum Schluss konnte jeder selber entscheiden, ob er mehr Geld oder mehr Lebensfreude anstreben wolle.

Zwei Generationen später sieht die Welt bedeutend anders aus. Vielleicht ist aus dem kleinen Schusterbetrieb inzwischen ein Weltunternehmen geworden, und alles wird anders bewertet. Mit einem gleich guten Resultat wie im Vorjahr war der Opa noch glücklich, während sein Enkel als Direktor des Konzerns einen Koller bekommt, weil dies eine Wachstumsrate gleich Null (!) bedeutet. Und eine ordentliche – zunehmende – Wachstumsrate ist eines der wichtigsten Kriterien in der neuen Finanzwelt.

Heute genügt es nicht mehr, gleich viele Millionen Schuhe zu produzieren und zu verkaufen wie im Vorjahr. Es scheint wichtiger zu sein, ob es mehr sind als letztes Jahr. Aber eigentlich genügt auch das nicht, denn dies wäre bloss Wachstum. Heutzutage gilt jedoch nur, ob wir schneller wachsen als in vorangegangenen Jahren und überdies von Jahr zu Jahr noch schneller wachsen als die Konkurrenz.

Der Sprung vom festen Boden eines greif- und begreifbaren Wertungssystems mit einem gemeinsamen Nullpunkt in die relativen Höhen der Vergleiche hat aber Folgen. Sollte sich eine der relativen Zahlen ungünstig entwickeln, bekommt die Schuhfabrik plötzlich schlechte Noten und ihre Aktien büssen an Wert ein. Unter Umständen kann dies das Ende der Schuhfabrik herbeiführen, obwohl kaum anzunehmen ist, dass sich die Qualität der Schuhe so abrupt verschlechtert hat.

Wie wichtig sind aber solche Kriterien für die „normalen“ Sterblichen? Sind die Angestellten der Schuhfabrik wirklich glücklicher und zufriedener, wenn das Unternehmen höhere Dividenden auszahlt als letztes Jahr? Die Wirtschaftskapitäne behaupten, dass sie es sein sollen, denn wenn die Zahlen im neuen Wertungssystem stimmten, dann gehe es der Wirtschaft gut und infolgedessen gehe es auch dem Volk und dem ganzen Land gut.

Das tönt recht glaubwürdig, insbesondere für Generationen, welche die Konjunktur der 1980-er Jahre erlebt haben. Seinerzeit wurden auch eine Wachstumsrate und Gewinnsteigerungen beobachtet, allerdings nicht als die Ursache, sondern als eine Folge oder Begleiterscheinung der damaligen Situation. Es ist unzulässig, diese kausale Kette in dem Sinne umzukehren, dass Arbeitsplätze, gute Saläre und soziale Sicherheit schlicht und einfach durch eine allgemeine Förderung der Wirtschaft herbeigezaubert werden. Die Wirtschaft kann ausgezeichnet florieren, auch wenn es der Mehrheit der Bevölkerung immer schlechter geht.

Immerhin hatten wir es am Beispiel der Schuhfabrik mit der Produktion von greifbaren Gütern zu tun. Aktien und ihre Werte bringen uns aber in die Welt der Börse und Finanzwirtschaft. Auch hier werden alle mit allen verglichen, die frenetisch wirkende Aktivität der Teilnehmer dreht sich aber nicht mehr um reale Produkte, sondern um Papiere, also symbolische Werte. Eine Aktie hat (meistens) einen Kauf- und Verkaufswert, obwohl es nur ein Stück Papier oder eine Eintragung im Computer ist. Die nächste Steigerung des symbolischen (und dadurch der weitere Verlust des realen) Wertes sind Optionen. Auch diese haben einen Marktwert, ebenso das Geld, das ein Bankier der (Schuh-)Fabrik geliehen hat, obwohl er es eigentlich gar nicht hatte. Auf jeden konkreten Schuh kann zum Schluss eine unbegrenzte Anzahl symbolischer Papiere herausgegeben werden. Der Verkaufswert dieses Schuhs erreicht aber vielleicht nur einen Bruchteil seiner symbolischen „Aura“. Das Ganze kommt unzähligen Guthaben gleich, die an der Aussenhülle eines Heissluftballons notiert sind. Der normale Sterbliche, der sein reales Geld in solche Heissluftballone steckt, versucht vielleicht später, einen Teil ihres Inhaltes zu verkaufen. Stellen wir uns nun noch Immobilien statt Schuhe vor, so durchschauen wir, dass viel Geld in Kartenhäusern steckte, und verstehen die Hypothekarmarktkrise und ihre Ausweitung zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. (Übrigens nennen die Wirtschaftsexperten unsern „Heissluftballon“ eine „Blase“.)

Wie sieht die restliche Bevölkerung das Geschäft mit dem symbolischen Geld? Wird dadurch das Geld in unserer Welt richtig verteilt, wie es die Finanzexperten behaupten? Läuft einer von den Börsianern Amok und verkauft alle Aktien eines Unternehmens, so folgen ihm möglicherweise viele andere fieberhaft. Das kann das Ende der Schuhfabrik bedeuten, obwohl wiederum kaum anzunehmen ist, dass die Fähigkeiten aller ihrer Angestellten im Sekundentakt variieren.

Sollte also der Schritt von konkreten Schuhen zum Spielbrett mit Papieren und aufgeblasenen Ballonen jemandem etwas bringen, dann sind es kaum mein Nachbar, Sie oder ich.

Auch in konkreten Angelegenheiten der Finanzwirtschaft begegnen wir zunehmend Neuheiten. Es konnte auch dem alten Schuhmacher passieren, dass er sich einmal Geld ausleihen musste. Er tat es zwar ungern, konnte es aber ohne grosse Angst tun. Die damaligen „Finanzinstitute“, Wucherer genannt, hatten zwar einen schlechten Ruf, aber die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze hielten sie im Griff. Wenn einer versuchte, jemandem Geld auszuleihen, das er gar nicht in der Tasche hatte, oder wenn seine Gewinne unangemessen hoch waren, musste er mit recht derben Strafen rechnen. Für ihre heutigen Nachfolger ist der Handel mit symbolischem, auf die Ballone geschriebenem Geld eine legale Selbstverständlichkeit und die alten Wucherer würden sie um ihre Gewinne beneiden.

Sind solche Überlegungen nur ein Lamento über die verlorenen alten goldenen Zeiten? Oder ein amüsant belangloses Glossieren unserer Zeit? Weder noch. Die weltweite Krise ist akut und ernst genug. Die Finanzwelt spricht zwar vom Ende der Krise, was allerdings nur für ihre Kriterien gilt. Einige Grossunternehmen und Banken verdienen wieder und somit ist die Eigenwelt der Finanzwirtschaft wieder in Ordnung. Die Weltbevölkerung muss aber in der nächsten Zukunft Tausende Milliarden aus ihrer Tasche bezahlen, die für die „Rettung“ der Wirtschaft ausgegeben wurden.

Was hat eigentlich die Krise verursacht und vor allem: Wie können wir die nächste verhindern?

Einige zurzeit herrschende Erklärungen schieben die Schuld den „gierigen Managern“ zu. Sie sollen sich bessern und ihre Boni sollen gekürzt werden. Weiter soll die Wirtschaft zu mehr sozialem und moralischem Denken aufgefordert werden. Der alte Schuster mit seinem gesunden Menschenverstand und seiner Menschenkenntnis würde über diese Lösungen wahrscheinlich lachen.

Mehr soziales und moralisches Denken empfehlen uns die Philosophen und Reformatoren seit Jahrtausenden. Das Resultat? Denken vielleicht, handeln kaum. Es gibt genug Beispiele von illegaler Steuerhinterziehung in den höchsten Einkommensklassen. Damit sind wir wieder bei den absoluten und relativen Werten. Aus der Sicht der normalen Sterblichen haben die Reichen so viel Geld, dass noch mehr zu wollen eigentlich sinnlos erscheint. Das wäre die absolute Sichtweise. Unter dem Zwang der Relation, d. h. der Vergleiche mit dem letzten Jahr oder mit den Konkurrenten können sich diese Superreichen jedoch kein grosses soziales oder moralisches Denken leisten.

Der Enkel an der Spitze der Schuhfabrik ist vielleicht wirklich gierig und möchte einen noch grösseren Lohn haben, vor allem aber seine Stellung behalten. Wenn er weniger Mitarbeiter/innen entlässt als die Konkurrenz, dann rast die Schuhfabrik auf der Achterbahn der Finanzkriterien wieder ins Loch und er wird durch einen „fähigeren“ Kollegen ersetzt.

Haben denn mindestens die Inhaber von Geld und Fabriken die Freiheitsgrade des Schuhmachermeisters? Auch nicht. Auf den Höhen der Finanzgipfel wehen raue Winde. Ein Imperium mit schwachem Imperator kann schnell von der rassigeren Konkurrenz geschluckt werden. Unter der neuen Führung fegen dann erst recht ruppige Böen durch die Schuhfabrik.

Unser Bild von Kapitänen am Ruder, die mit fester Hand unser Land an das vereinbarte Ziel im sicheren Hafen steuern, braucht eine Korrektur. Eigentlich sind sie selbst gesteuert durch Wirtschaftskriterien. Wir haben ein System eingeführt, das sich selbständig gemacht hat und uns steuert. Die Situation in der Wirtschaftswelt erinnert somit zunehmend an die Stube, in welcher der Zauberlehrling einen Besen in Bewegung setzte und nun machtlos zuschaut, was der Spuk alles anstellt.

Warum haben wir eigentlich etwas derart Unlenkbares und potenziell Gefährliches entwickelt und zugelassen? Während der Konjunktur haben die Wirtschaftskriterien mit ihren relativen Zielen, Globalisierung und „Blasengeld“ zuerst gute Dienste geleistet. Es wurden viel mehr Autos hergestellt als vorher, der Knoblauch aus China war billiger als jener, der uns vor der Nase wuchs, und Menschen wurden Hypotheken zum Bau ihrer Häuser beinahe aufgedrängt. Der fleissige Besen steigerte dann aber ständig seine Leistungen, so dass die Anzahl der ausgestossenen Autos heute viel grösser ist, als man verkaufen kann; beim Knoblauch fangen wir erst jetzt an, die Kosten und Schäden des Transports um den Globus mitzurechnen, und die Häuser, die mit „faulem“ Geld gebaut wurden, verfaulen eventuell, ohne dass Menschen sie bewohnen konnten.

Der „Wirtschaftsbesen“ fegt zudem nicht nur in den Schuhfabriken. Die Wertkategorien der modernen Wirtschaft schleichen sich zunehmend auch in unser tägliches Leben ein. Öffentliche Dienste, Gesundheitswesen, Ausbildungssystem, sogar der Sport sind „Business“ geworden. Durch Privatisieren und/oder unter dem Druck der Konkurrenz fällt alles unter die Herrschaft der Gesetze des finanziellen Erfolgs.

Die Befürworter einer solchen Wirtschaft melden dann zufrieden, dass privatisierte Institutionen nun besser funktionieren. Gemessen an den Kriterien der Gewinne und Gewinnsteigerung stimmt das sicher. Ob der Rest der Bevölkerung, dessen Mitglieder nicht die jährliche Erfolgsbilanz lesen, sondern auf reduzierte oder ganz gestrichene Dienste angewiesen sind, mit derart „besserem Funktionieren“ auch zufrieden sind, steht auf einem anderen Blatt. Eine gesunde und gut ausgebildete Bevölkerung ist unser wertvollstes Kapital, viel wichtiger als Spitäler und Universitäten, die sich als Profitzentren profilieren, oder fremde Investoren, die unsere Firmen übernehmen und unser Land kaufen. Wenn kranke Menschen mit Grippe zur Arbeit gehen, damit ihr Lohn nicht gekürzt wird, und begabte Kinder von working poor- Schichten nicht studieren können, dann hat der Besen zu weit und gegen das Wohl unseres Landes und seiner Bewohner gefegt. Entlassungen, Kürzung der Sozialleistungen und ähnliche Aktionen öffnen zudem weltweit die Wirtschaftsschere zwischen Arm und Reich mit ihren möglicherweise verheerenden Folgen.

Der Besen des Zauberlehrlings und unser Wirtschaftssystem haben beide ihre positiven Seiten, aber einen fatalen Fehler: Wenn sie sich selbständig machen, sind sie nicht mehr steuerbar. Beiden fehlt ein Kontrollmechanismus, mit dem die Lehrlinge ihren Zauber in Griff halten könnten. Aus dem Diener ist der Herr geworden und umgekehrt.

Wenn wir finden, dass die Heissluftballone zu sehr aufgeblasen und die Kartenhäuser zu wacklig gebaut werden, und wenn wir unsere Lebensqualität nicht nur im Erfüllen von Finanzkriterien sehen wollen, müssen wir einen Kontrollmechanismus ausserhalb der Wirtschaft finden und einführen. „Wir“ sind dabei nicht nur die Geldbesitzer, Investorinnen, Politiker und Finanzspezialistinen. „Wir“ sind auch wir, der Rest der Bevölkerung, genauer gesagt die Mehrheit der Bevölkerung.

Das Umkonstruieren des Zauberbesens müssen dann konkret schon die Finanzspezialisten erledigen. Sie sind dazu sicher auch fähig. Im Auftrag ihrer bisherigen Geldgeber haben sie ein bewundernswert effizientes System entwickelt. Für einen verschwindend kleinen Bruchteil der Billionen, die wir jetzt für den Kollaps zahlen, können wir uns die besten Fachleute in Wirtschaft und Politik leisten, damit sie die nötigen Korrekturen des Zauberbesens ausarbeiten.

Den Auftrag dazu können und müssen wir in demokratischen Ländern unseren Regierungen selber geben. Durch unsere Wahl von Politikern und Politikerinnen, durch Abstimmungen und oft auch durch tägliche lokale politische Wirkung. Das klingt nun ziemlich allgemein und nicht konkret. Es wird auch nicht ganz einfach sein, weil wir vieles vom herrschenden Finanzdenken assimiliert haben. Als kleine Hilfe können wir aber vielleicht unsere Kriterien von absoluten, realen und menschlichen Werten anwenden.

Als Beispiel ist der Wettbewerb der Kantone im wiederholten Senken der Steuer für die Reichen eine typische Anwendung von relativem statt absolutem Denken. Im Vergleich mit den „Konkurrenten“ kann dadurch jeder Kanton vorübergehend einen relativen Vorteil verbuchen. Absolut gerechnet verliert das Land Einnahmen, welche dann auf Umwegen zurückgeholt werden müssen. Teilweise auch von den „relativen Siegern“. Ein Spiel mit garantiert negativer Endsumme.

Die heutige Situation ist die Krise der unechten, virtuellen „Blasenwelt“ der Finanzwirtschaft. In der normalen Welt mit Realwirtschaft ist nichts passiert, was eine Krise hätte hervorrufen können. Unsere Regierungen müssen unsere reale Welt durch klare, unumgängliche Kontrollmechanismen vor den inhärent instabilen virtuellen Teilen der Finanzwelt schützen. Jetzt, sonst verlieren wir wieder mehr, als wir scheinbar gewonnen haben.

Sparen an Gesundheit, Ausbildung und sozialen Leistungen kann kurzfristig die Jahresbilanzen besser aussehen lassen. Der Ausverkauf des Landeseigentums auch. Langfristig ist es für uns, die Mehrheit der Bevölkerung, ein Verlustgeschäft.

Absolute, reale und menschliche Werte sind am Schluss das Einzige, was wirklich zählt.