Das Leben auf unserem Planeten verändert sich unter dem Einfluss von menschlichen Aktivitäten mit zunehmender Geschwindigkeit. Die von uns generierte neue Welt enthält neuartige Phänomene technischer, sozialer und politischer Natur, die man mit herkömmlichen Evolutionstheorien nicht erklären kann. Negative Beispiele dafür sind Finanzkrisen, Weltkriege, Gefahr der Anwendung von Massenvernichtungswaffen oder unzählige an Hunger sterbende Menschen bei gleichzeitiger Überproduktion von Nahrungsmitteln.
Die genauere künftige Evolution unserer Biosphäre zu kennen drängt sich darum immer mehr auf. Hier wird versucht, Auswirkungen einiger neu eingeführter Phänomene mit Hilfe von Erkenntnissen aus Regelungstechnik, Kybernetik, Thermodynamik, Teleologie und Theologie in populärer Form zu erläutern in der Hoffnung, dass die Sicht aus anderen Perspektiven neue Möglichkeiten eröffnet.
Beim Rückblick auf die bisherige Entwicklung fällt zuerst ein ausgeprägter Paradigmenwechsel auf, der beim Übergang des Menschen als „Sammler und Jäger“ zum „Ackerbauern und Viehzüchter“ begann. Die Phase bis zu dieser Zeit ist charakterisiert durch Veränderungen der körperlichen Eigenschaften der Lebewesen und kann mit der von Charles Darwin vorgeschlagenen Theorie von Mutation und Selektion nachvollziehbar beschrieben werden. Dieses Modell verliert aber zunehmend an Bedeutung, weil die weitere Entwicklung unserer Welt von unseren künftigen Handlungen, nicht von unseren körperlichen Eigenschaften abhängt. Für Zukunftsprognosen muss ein neues Modell aufgestellt werden.
Es könnte lehrreich sein, zuerst aber auch bestimmte positive Auswirkungen der Kombination Mutation – Selektion zu berücksichtigen, die mit dem alten Modell verloren gehen. Dazu gehören zum Beispiel:
Mutation: Aus der Sicht moderner Optimierungsmethoden wird die Entwicklungsstrategie zufälliger Veränderungen der Systemparameter als sehr ineffizient eingestuft, wie schon die oft angewandte negativ konnotierte Bezeichnung „blinde Mutation“ andeutet. Zufällig bedeutet aber auch nicht kontrolliert oder sonst beschränkt, was wiederum von Vorteil sein kann. Als Beispiel haben einige Pflanzen eine sehr effiziente Abwehrstrategie gegen Schädlinge entwickelt. Wenn sie ernsthaft bedroht sind, produzieren sie Duftstoffe, welche schädlingsfressende Wespen anlocken. Heute würde für ein analoges Problem die Idee „Unbegründetes Ausstossen von nicht näher spezifizierten Duftstoffen mit unbekannter Wirkung in die Luft“ als sinnlos, ineffizient, wirtschaftlich nicht durchführbar, zeitraubend etc. sicher nicht in Betracht gezogen. Die einfache, zufallsgesteuerte Entwicklung kann also kreativer abschneiden als moderne Optimierungsmethoden, wenn diese von wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Restriktionen eingeschränkt sind.
Selektion: Die meisten Interpretationen von Darwins Theorie konzentrieren sich auf die positive Wirkung „Überleben und Verbreiten von fitteren Mutanten“. Selektion eliminiert aber auch negative Mutationen. Eine gedeihende Spezies ist meistens so weit optimiert, dass sich die Mehrheit der zufällig generierten Veränderungen eher ungünstig auswirkt. Das Eliminieren der schädlichen Mutanten ist wahrscheinlich wichtiger als das Propagieren der positiven.
Genetisch verankerter Altruismus: Einige positive Verhaltensmuster sind genetisch vererbt und so durch die Evolution gesichert. Als Beispiel teilen Mitglieder einer Gruppe oft die Beute, auch wenn sie einander sonst bekämpfen.
Ziel der Evolution: Aus streng wissenschaftlicher Sicht verfolgt die Kombination Mutation und Selektion in der Natur kein definiertes Ziel. Das Leben verbreitete sich aber bis in die unwirtlichsten Regionen der Erde, überlebte Katastrophen aller Art und entwickelte eine enorme Artenvielfallt. Es wirkte allenfalls, als ob es das Ziel „Überleben des Lebens“ verfolgen würde.
Die Frage ist, ob neue Gesetzmässigkeiten unserer modernen Welt ein solches Ziel, inklusive die Elimination schädlicher Mutationen, auch verfolgen und fähig sind, dies zu erreichen.
Für Entwicklungsprognosen auf wissenschaftlicher Basis wird ein Modell des untersuchten Systems benötigt. Norbert Wiener zeigte, dass Lebewesen ein komplexes Netz hierarchisch verschachtelter Regelkreise enthalten, die sämtliche wichtigen Prozesse steuern; vom Metabolismus der Zellen über die Kooperation der Organe bis zu beobachtbaren Aktionen des gesamten Organismus. Er prägte dazu den Ausdruck Kybernetik. Die Grundaufgabe der einzelnen Regler ist es dabei, die jeweiligen Variablen auf dem gewünschten Wert zu halten. Als Beispiel wird der optimale Wassergehalt im Körper (Sollwert) mit dem aktuellen Inhalt (Istwert) verglichen und der nötige korrigierende Befehl (Ausgangssignal) weitergeleitet; in diesem Fall durch die Wahrnehmung von Durst.
Zu den primären Sollwerten der höheren Lebewesen gehört den Hunger zu stillen, Gefahren abzuwehren und eine höhere Stellung in der Sippe zu erreichen. In der Phase bis zum Umbruch zur modernen Welt waren die Regelungen mit solchen Zielen funktionsfähig und stabil.
Die primären Ziele eines modernen Homo Sapiens werden oft formuliert als «Wohlstand, Sicherheit und Erfolg». Diese scheinen eine vervollkommnete Formulierung der ursprünglichen Wünsche zu sein, in regelungstechnischer Beurteilung sind sie aber prinzipiell andersartig. Der alte Sollwert „satt werden“ war absolut definierbar und wurde von den Mitgliedern einer gedeihenden Spezies immer wieder erreicht. Der entsprechende Regler schickte dann eine Zeitlang keine korrigierenden Ausgangssignale, was meistens zur Regeneration des Organismus gebraucht wurde. Unseren «Wohlstand» empfinden wir aber nur relativ anhand des Vergleichs zu anderen Ländern oder anderen Menschen. Das Ziel ist somit neu formuliert als „mehr oder besser als die anderen“ und lässt sich nicht von allen und auf die Dauer erreichen. Ein Regler in solchem Zustand versucht ständig korrigierende Massnahmen zu erhöhen.
Die gleiche Überlegung gilt auch für den Wunsch nach Sicherheit. Am Beispiel des Sicherheitsgefühls in den einzelnen Ländern wäre die folgerichtige Formulierung ihrer Sollwerte: „Alle wollen militärisch besser gewappnet sein als alle anderen“, was ein logischer Widerspruch ist. Zusätzlich entsteht eine in der Regelungstechnik befürchtete „positive Rückführung“, denn bessere Waffen eines Landes rufen weitere Rüstung der potentiellen Feinde hervor, was zu einer sich verstärkenden Schleife führt.
Das Ziel einer höheren Stellung in der Sippe erfüllte ursprünglich die Aufgabe „Züchten und Aufrechterhalten optimaler Eigenschaften der Spezies“. Die Konkurrenzkämpfe des modernen Menschen verfolgen jedoch abstrakte Ziele wie Eigentum, hierarchische Positionen oder politische Macht. Diese Sollwerte sind definiert als eine auf Vergleichen mit den Rivalen basierende Relation.
Aus der Sicht der Regelungstheorie können die neuartigen relativen Sollwerte dauerhaft nicht erreicht werden. Auch der absolute Sieger bleibt im Konkurrenzkampf, weil er seinen Vorsprung aufrechterhalten will. Die Regelkreise sind instabil und degenerieren zu einem einfachen Glied mit der Funktion „maximales Ausgangssignal“. Die Steuerung des Gesamtsystems verschiebt sich dadurch in eine andere Problematik, wie verfügbare Ressourcen, Bekämpfen der Konkurrenten etc. Ein ursprüngliches übergeordnetes Ziel im Sinne „Überleben des Lebens“ ist im kybernetischen Modell der modernen Welt nicht vorhanden.
Richard Dawkins erweiterte das Modell um Phänomene aus einer Kategorie, die er als „extended Phenotype“ (erweiterter Phänotyp) bezeichnete. Das Netz einer Spinne ist kein körperliches Merkmal, wie die Grösse oder Anzahl Beine, spielt aber eine entscheidende Rolle bei Interaktionen mit der Umwelt. Die erweiterten Phänotypen des modernen Menschen sind nicht nur materielle Gegenstände wie Bauten oder Maschinen, sondern auch abstrakte Erscheinungen wie Eigentum, Handel, Wissenschaft, Kultur allgemein, Religion, neue Formen der Macht etc. Diese sind allerdings derart komplex, dass sie als selbständige, aktive und sich selber weiterentwickelnde Teile der neuen Welt betrachtet werden müssen. Als Beispiel ist die Börse ein Produkt von Menschen, weist aber so viel „Eigenleben“ auf, dass wir sie mit enormem Aufwand erforschen (tägliche Marktanalysen), nur begrenzt kontrollieren und nicht abstellen können.
Ein weiteres Merkmal der komplex gewordenen Welt ist die Rückwirkung der erweiterten Phänotypen auf den Menschen. Religion, zum Beispiel, ist nicht nur ein Bestandteil des Lebens von Milliarden Menschen, die Menschen werden durch die Religion auch „geformt“.
Dawkins ergänzte das Modell der neuen Welt weiter mit einer Analogie zur Genetik. In Anlehnung an den Begriff «Gene» postulierte er die Informationsträger «Meme». Grob gesagt bestimmen Gene die körperlichen Eigenschaften und Meme das Verhalten. Meme verbreiten sich durch Erziehung, Schulwesen, Medien, Politik, Kultur, Propaganda etc. und sind teilweise in Gesetzen, Sitten, Gewohnheiten, Mode, Religionen usw. verankert. Sie können auch mutieren und bilden benigne oder maligne „Nachkommen“. Dawkins‘ «Memetik» wurde von Wissenschaftlern kritisiert, für Überlegungen über die künftige Entwicklung unserer Welt kann sie aber wertvolle Erkenntnisse liefern.
Gene können sich nur „seriell“ auf die eigenen Nachkommen übertragen und vermehren sich darum nur im Generationsrhythmus. Meme können „parallel“ prinzipiell beliebig viele Menschen gleichzeitig „befallen“ und sich schnell verbreiten. Dieses neue Verhaltensmuster kann mit einer alten Hypothese von Jean-Baptiste Lamarck besser beschrieben werden, als mit Darwins Modell. Lamarck postulierte, dass Merkmale, die während des Lebens akquiriert wurden, weiter an die nächste Generation vererbt werden können. Das konnte für die genetisch gesteuerte Evolution nie bewiesen werden, ist aber typisch für durch Meme gesteuertes menschliches Verhalten. Als Generation ist hier die Vermehrung der Meme selbst gemeint, nicht die Generation ihrer Träger, der Menschen. Somit erwacht die Hypothese von Lamarck zu neuem Leben. Verhaltensmuster können während der Lebenszeit erworben, intensiviert, verändert und weitergegeben werden. Dadurch kann die Evolution enorm beschleunigt werden. Zum Schlechten, aber hoffentlich auch zum Guten.
Der Wechsel von Darwins zu Lamarcks Modell liegt wahrscheinlich auch dem – historisch gesehen extrem schnellen – Wandel vor ca. zwölftausend Jahren zugrunde. In Chaos-, Emergenz- oder Komplexitätstheorien wird eine Entwicklung mit tiefgreifenden schnellen Veränderungen als sogenannter Bifurkationspunkt bezeichnet. Eine der Definitionen dieses Phänomens lautet: «die Schwelle, an der das System in ein neues dynamisches System „kippt“, das nicht mehr als Fortsetzung bisheriger Muster interpretierbar ist. Charakteristisch an solchem „Kippen“ ist eine sprunghafte Veränderung».
Zwischen den letzten „Sammlern und Jägern“ und ägyptischen Pharaonen liegen zwar ein paar Jahrtausende, aber die Differenz der Sozialstruktur herumziehender kleiner Jägergruppen mit rivalisierenden Anführern zu ägyptischen Pharaonen, die als „Halbgötter“ das ganze Land und Volk als ihr Eigentum besassen, ist dermassen gross, dass wir sie durchaus als Sprung bezeichnen können. Mit dem Massstab von Milliarden Jahren bisheriger Evolution befinden wir uns somit auch heute wahrscheinlich immer noch mitten im „aktiven“ Bifurkationspunkt. Diese Ansicht wird unterstützt von der Feststellung der Chaostheorie, dass es zu sprunghaften Veränderungen vor allem dann kommt, wenn grosse Gradienten von wirkenden „Kräften“ herrschen. Solche Gradienten sind in unserer Gesellschaft vorhanden, wie zum Beispiel die sogenannte Wirtschaftsschere.
Wenn das menschliche Verhalten „nicht mehr als Fortsetzung bisheriger Muster interpretierbar ist“, dann wird eine Prognose der Zukunft anhand der Erfahrungen aus der Vergangenheit schwierig. Die gute Nachricht ist aber, dass sich neues, besseres Verhalten auch inmitten problematischer Zeiten etablieren kann unabhängig davon, wie lange der schlechte Zustand vorher dauerte.
(Interessanterweise hat Friedrich Engels einen Teil des Phänomens Bifurkationspunkt bereits vor mehr als hundert Jahren erkannt und formuliert als „Quantität verändert sich sprunghaft in Qualität“. Seine philosophische Ansicht wurde dann im Marxismus-Leninismus gedeutet als „die Unterdrückung der Arbeiterklasse nahm so viel zu (Gradient), dass es zu sprunghafter Veränderung kam (Revolution)“. Karl Marx erstellte dann seine Prognosen der Zukunft anhand der historischen Entwicklung, was gemäss der Chaostheorie im Bifurkationspunkt unzulässig ist. Entsprechend folgte dann auch anstatt des erwarteten Modells Kommunismus und klassenfreie Gesellschaft die stalinistische Diktatur mit der neuen „Klasse“ der Parteianhänger, in der Millionen Menschen umgebracht wurden, um den echten Kommunismus zu verhindern.)
Beispiele von besonders malignen Verhaltensmustern werfen die Frage auf, wieso sie nicht durch kognitives Denken der involvierten Menschen korrigiert wurden. Viele der alten und gegenwärtigen Gräueltaten wurden und werden ausgeführt oder unterstützt durch intelligente, oft hoch gebildete Menschen. Historische Beispiele dafür sind Inquisitoren, Hitlers Stab oder Stalins Politbüro.
Paul Tillich nennt dieses Phänomen „Kollektivismus“. In seiner These bekämpfen Anhänger einer Bewegung oder einer Gruppe ihre (unbewusste) Angst durch Identifikation mit den Aktivitäten und Zielen der Gruppe. In Tillichs‘ Formulierung „… Jede individuelle Selbstbejahung der Selbstbejahung der Gruppe und dem Ziel der Gruppe zu opfern. Der Sinn des Lebens ist der Sinn des Kollektivs“.
Aus der Sicht der Regelungstechnik fällt noch die Steuerungsstruktur innerhalb der menschlichen Gruppierungen auf. Wirtschaft und Politik sind sehr komplexe vernetzte Systeme mit weitreichenden Folgen für die Gesamtbevölkerung. Bei technischen Steuerungen komplexer und potentiell gefährlicher Anlagen werden entscheidende Elemente einer Dauerkontrolle unterzogen; je wichtiger ihre Funktion, desto strenger. So wird zum Beispiel das einwandfreie Funktionieren des Steuerungscomputers in komplexen Systemen durch unabhängige Kontrollalgorithmen regelmässig überprüft. Werden potentielle Probleme festgestellt, so übernimmt die Kontrollfunktion das Kommando, stellt die bisherige Regelung ab und fährt die Anlage in einen sicheren Zustand (sog. Watchdog).
Die heutige Wirtschaft und Politik werden durch eine kleine Anzahl von Individuen beeinflusst, teilweise direkt beherrscht. Diese unterstehen oft keiner oder nur einer theoretischen Kontrolle. Somit hängen Steuerung und Weiterentwicklung unserer modernen Welt vom persönlichen Charakter und von Handlungen solcher Führer ab. Dieses Problem liegt aber nicht im Bereich der Regelungstechnik, die Lösung müsste in anderen Disziplinen wie Politik, Wirtschaft, Soziologie, Psychologie und nicht zuletzt Psychiatrie gesucht werden. (Bei mehreren historischen Herrschern diagnostizierte man nachträglich schwere psychiatrische Probleme wie Megalomanie und/oder Paranoia. Ihr oft brutales Handeln wirkte offensichtlich sogar anziehend, selbst wenn es sich gegen die eigenen Anhänger richtete.)
Diese Überlegungen tragen zum besseren Verständnis des Problems bei. Die Frage, warum ein sinnloses Verhalten nicht vom enormen Potential kognitiven Denkens verhindert wird, bleibt aber offen. In unserem Modell fehlt die Beschreibung, wie menschliches Verhalten gesteuert wird.
Der Neurobiologe Joachim Bauer liefert dazu in seinem Buch „Selbststeuerung“ aufschlussreiche Erkenntnisse: Im menschlichen Gehirn wirken zwei Fundamentalsysteme; das Trieb- oder Basissystem und der kontrollierende Präfrontale Cortex. Beide sind sehr komplex und bestehen aus mehreren Bauteilen. Zur Vereinfachung werden hier die populären Ausdrücke Kleinhirn und Grosshirn verwendet.
Das Kleinhirn steuert die triebhafte, spontane und automatisch ablaufende Verhaltensweise. Es vermittelt uns unter anderem die Wahrnehmung von uns selbst, wie Angst, Stress, Schmecken, Fühlen (inkl. Wohlfühlen), aber auch Langeweile, Affekte, Launen, Bequemlichkeit oder Ungeduld.
Das Grosshirn ist in Bauers Darstellung dem Kleinhirn übergeordnet. Zu seinen Fähigkeiten gehören die Informationsverarbeitung, das Fokussieren der Aufmerksamkeit, das Verarbeiten von mehreren Aspekten gleichzeitig, das Erkennen von Zusammenhängen in Abläufen der Aussenwelt, Flexibilität und nicht zuletzt die soziale Intelligenz.
Begriffe wie übergeordnet und kontrollierend vermitteln den Eindruck von Überlegenheit und höherer hierarchischer Stellung des Grosshirns. In der Regelungstechnik werden dazu in verschalteten Systemen Ausdrücke wie „Master“ und „Sklave“ gebraucht. Der Master entscheidet übergeordnete Ziele und der Sklave erledigt die Kleinarbeit. Diese Darstellung ist für die Beschreibung unserer Gehirne nicht ganz korrekt, es gibt zahlreiche Ausnahmen und das Modell des Systems ist offensichtlich komplizierter. So kann sich das Kleinhirn auch als selbständiger Regler durchsetzen, wie Bauer an einer Stelle sogar pointiert formuliert: Unter gewissen Umständen „übernimmt sozusagen das Reptiliengehirn“.
Das Kleinhirn war bei unseren genetischen Vorfahren bereits vor Millionen Jahren vorhanden und ist heute gleich aktiv, wie es immer war. Es kann seine eigenen Ziele wahrnehmen und Aktionen im Körper auslösen, um diese zu erreichen. Es kann das Belohnungssystem aktivieren und Glücksbotenstoffe freisetzen. Seine wichtigsten Ziele sind die gleichen geblieben: Nahrung beschaffen, Gefahren abwehren und sozialen Status erreichen. Wie funktioniert es beim modernen Menschen heute?
Nahrung beschaffen in der Form von etwas Essbares suchen und finden oder erspähen und erbeuten gibt es heute praktisch nicht mehr. Nahrung ist eine käufliche Ware geworden. Somit entfällt aber auch die ursprüngliche tägliche Belohnung „Aufwand – Erfolg“ durch entsprechende Hormone. Einen Ersatz der alten Befriedigung bieten Alkohol, Nikotin, Drogen, Speisen und Getränke mit hohem Fett- oder Zuckeranteil und eine breite Palette von Konsumgütern aller Art.
Die tägliche Konfrontation mit Gefahr, die durch Flucht oder Kampf erfolgreich gelöst wird, erleben nur noch kleine Reste von Naturvölkern. Dadurch entfällt aber auch das Paar „Erregung – Belohnung“. Die früher häufig geübte Aufgabe des Kleinhirns, das Adrenalin im Kampf auszuschütten und den Sieg mit Glücksbotenstoffen zu belohnen, entfällt. Unsere moderne Welt bietet dafür aber viele Möglichkeiten für den Ersatz der fehlenden ursprünglich erregenden Wahrnehmungen. Als Beispiel überfluten wir unsere Sinnesorgane bis über die Grenzen, die medizinisch als gesundheitsschädigend eingestuft sind. (Mehr als eine Milliarde vorwiegend junger Menschen ist ernsthaft bedroht, später ihr Gehör teils oder ganz zu verlieren als Folge der wiederholten Überlastung.) Wir lassen unser Kleinhirn oft Adrenalin produzieren, ohne es durch körperliche Aktivität abzubauen, wie etwa die Zuschauer bei Sportveranstaltungen. Der Mangel an Erlebnissen führt zur ständig zunehmenden Suche nach „Emotions“. Als Ersatz kreieren wir am häufigsten Angstzustände. Gut die Hälfte der beliebten TV-Sendungen gehören zur Kategorie Krimi, Drama, Horror, Horror-Thriller, Kriegsdrama usf. Remakes früherer Kulturwerke verwenden immer mehr brutale Szenen. Diese Ersatz-Erregungen erfüllen offensichtlich das Ziel nicht, denn sie werden ständig vermehrt und intensiviert.
Eine der von Joachim Bauer erwähnten Wahrnehmungen des Kleinhirns ist Langeweile. Vielleicht sollte sie eher als Mangel an echten Herausforderungen und vor allem Belohnungen verstanden werden. Diese sind wahrscheinlich sehr wichtig; bei ernsthaftem Manko kann das Kleinhirn, das keine kognitiven Fähigkeiten besitzt, auch schädliche Handlungen auslösen. Als Beispiel rupfen sich Papageien im Käfig ohne genügend äussere Reize eigene Federn aus, und Tauben – Symbol des Friedens – bekämpfen einander blutig, wenn sie auf zu kleinem Raum gehalten werden. Es gibt unzählige menschliche Analogien solchen Verhaltens. Der Mangel an Erlebnissen scheint für viele Menschen schwer bis unerträglich zu sein.
Die dritte Aufgabe des Kleinhirns, einen hohen sozialen Status zu erreichen, dient in der Natur dem „Vermehren der körperlich Fitteren“. In unserer modernen Welt verliert diese Definition ihren Sinn. Menschen, die unsere Zukunft beeinflussen, vermehren sich oft eher weniger als der Durchschnitt, und ihre körperlichen Eigenschaften sind praktisch bedeutungslos.
Dafür gibt es aber unzählige Ersatzbefriedigungen. Das Kleinhirn belohnt jeden finanziellen Gewinn, jede erklommene hierarchische Position und jeden Erfolg in beinahe allen menschlichen Aktivitäten. Die moderne Welt liefert dazu ein breites Angebot an Möglichkeiten die aktuelle Rangordnung wahrzunehmen und sich am Wettkampf aktiv zu beteiligen. Moderne Menschen können ihren Wettbewerbstrieb gleichzeitig in mehreren „Disziplinen“ ausleben. Konkurrenzkampf, Rivalität und Streben nach Status bilden bei den meisten Menschen den Hauptanteil ihrer Interessen und verbrauchen den grössten Teil ihrer Zeit und ihrer Ressourcen. Es macht den Eindruck, dass das Kleinhirn seine seit Millionen Jahren geprägte Funktion auch in der neuen Welt ausübt, wozu ihm das Grosshirn die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellt. Das enorme Potential unseres neu gewonnenen kognitiven Denkens wird zum grossen Teil für das Befriedigen von uralten Instinkten gebraucht.
Diese etwas kritisch wirkende Feststellung enthält aber eine wichtige gute Nachricht. Unser Kleinhirn konnte sich offensichtlich während – historisch gesehen – kurzer Zeit enorm anpassen, neuartige Impulse wahrnehmen und andersartig formulierte Ziele verfolgen. Somit gehört unser „Reptiliengehirn“ aus der Sicht der Komplexitätstheorie in die Kategorie komplexer adaptiver Systeme mit dem Potential von Selbstlernen. Deshalb kann es sich unter günstigen Bedingungen auch in eine positive Richtung weiterentwickeln und eine günstigere Evolution unterstützen.
Die von Joachim Bauer beschriebene Führungsfunktion des Grosshirns – von ihm genauer definiert als „Präfrontaler Cortex“ – kann die Tendenzen des Kleinhirns überwinden. Als Beispiel ist ein Mensch fähig, schädliche Auswirkungen vieler Ersatzbefriedigungen zu erkennen und die entsprechenden Handlungen willentlich zu unterbinden. Diese Möglichkeit wird jedoch nicht oft genützt, weil dadurch auch die dazugehörigen Belohnungen entfallen.
Aber das Grosshirn kann auch selber eigene Ziele kreieren und durch ihr Erreichen befriedigende Belohnungen auslösen. Zum Beispiel im Spannungsfeld „Problem – Lösung“. Im Gegensatz zu den vorprogrammierten Zielen des Kleinhirns kann sich das Grosshirn beinahe für jedes Problem „begeistern“, es als Ziel wahrnehmen und die Lösung als Erfolg erleben. Dazu gehören Entdecken, Lernen, Erfinden, Erschaffen etc. auf allen Stufen der Schwierigkeitsgrade. Wir Menschen hätten unzählige Möglichkeiten Aktivitäten auszuüben, die echte Befriedigung bringen, auch wenn sie ausserhalb der Interessen des Kleinhirns liegen. Auch diese Chance wird oft nicht wahrgenommen. Als Beispiel erweitern viele Universitäten ihr Angebot in Gebieten wie Wirtschaft, Management, Finanzen, Public Relations etc. und schliessen Fakultäten mit Humanwissenschaften, weil Studenten ihre Wahl nicht immer nach ihren wahren Interessen treffen, sondern nach dem erhofften höheren Status.
Diese Erkenntnisse führen zur Hypothese, dass das oberste Ziel der Lebewesen letztlich die Belohnungen waren und immer noch sind. Während Darwins Phase wurden selektiv solche Aktivitäten bevorzugt, die zum Ziel „Überleben des Lebens“ beitrugen. In unserer modernen Welt gibt es keine solche Selektion. Das Bedürfnis, Belohnungen zu bekommen, verfolgt kein weiteres Ziel. Die Wahl, auf welche Art die Belohnungen erreicht werden, wird teilweise zufällig oder nach dem Prinzip des einfachsten Weges getroffen.
Zusammenfassend können die Regelungstheorie, die mathematische Modellierung und neurobiologische Kenntnisse des Gehirns nur sehr beschränkt gültige Prognosen für die Zukunft liefern. Hier drängt sich die Frage auf, ob wir damit weiterhin leben können und hoffen, dass es später Lösungen geben wird.
Aus der Sicht der Thermodynamik wäre das eine schlechte Strategie. Dadurch könnte nämlich die ständige Zunahme der sozialen Entropie mit potentiell gefährlichen Auswirkungen übersehen werden. (Die fachlich korrekte Behandlung des Themas „Entropie“ würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Hier werden als Ersatz nur qualitative allgemein verständliche sprachliche Ausdrücke verwendet.)
Rudolf Clausius, Ludwig Boltzmann und andere Physiker haben bereits im neunzehnten Jahrhundert festgestellt, dass Energie aus zwei Anteilen besteht: nutzbare und nicht nutzbare Energie. Als Beispiel werden im Zylinder eines Verbrennungsmotors heisse Gase mit einer bestimmten Wärmeenergie erzeugt. Diese wird teils in nutzbare mechanische Energie zum Antrieb des Fahrzeugs verwandelt (Exergie) und teils ungenutzt durch Abgase, Reibung etc. an die Umgebung abgegeben (Anergie). In einem geschlossenen System (kein Austausch von Materie und Wärme mit der Umgebung) staut sich die erzeugte nicht nutzbare „Abfallenergie“. Diese lässt sich als eine physikalische Grösse „Entropie“ quantitativ berechnen. (Genauer gesagt ihre Zunahme). Die Entropie eines „geschlossenen Systems“ – Motor im isolierten Raum – nimmt zu, was mit der Zeit Probleme verursachen kann. Der Motor würde sich ständig erwärmen und sich selber vernichten. (Es macht den Eindruck, dass wir einfacher Energie gewinnen, als wir die bei unseren Handlungen entstehende „Abfallentropie“ loswerden.) In diesem Zusammenhang stellte Erwin Schrödinger fest, dass aus thermodynamischer Sicht das Leben auf unserem Planeten nur dank dem „Export der Entropie“ in den Weltraum überhaupt möglich ist.
Erkenntnisse der Entropielehre wurden auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Informatik, später auch soziale Wissenschaften, Wirtschaft, Politik etc. angewandt. Die quantitative mathematische Behandlung solcher Systeme ist oft nicht möglich, aber die dabei laufenden Prozesse können qualitativ beschrieben werden.
Als Beispiel der Veränderung von sozialer Entropie im alten Ägypten könnte das Bruttoinlandsprodukt (Gesamtwert aller hergestellten Güter und Dienstleistungen) als Analogie zur verfügbaren physikalischen Energie herangezogen werden. Diese wurde teilweise verbraucht für Nahrungsbeschaffung, Bau von Bewässerungssystemen, Häusern etc. und diente der gesamten Population (Exergie). Der Bau von Pyramiden, der Luxus des Pharaos und seines Hofes etc. waren aus der Sicht der Landeswirtschaft eine überwiegend nicht nutzbare Energie (Anergie). Weil das Land sozial ein geschlossenes System war, konnte die „Abfallentropie“ nicht exportiert werden. Das Rätsel, warum auch alle ähnlichen Kulturen, bis zu und mit den mittelamerikanischen Mayas, ausgestorben sind, könnte thermodynamisch erklärt werden als ein zu grosser Zuwachs der Entropie.
Übertragen auf unsere moderne Welt, beträgt zum Beispiel die Herstellung vieler Güter, inklusive ihrer Entwicklung, des nötigen Transports etc. (Exergie) nur einen Bruchteil der Verkaufspreise. Der Rest des investierten Aufwandes fliesst in Konkurrenzkämpfe, Reklame, Public Relations etc. (Anergie). Unser Planet ist ein sozial geschlossenes System. Der Soziologe Josef Hochgerner beurteilt diese Situation so: „obwohl [daher] in einigen Teilen der globalisierten Weltwirtschaft und der graduell entstehenden Weltgesellschaft die Zunahme von Entropie gebremst erscheinen kann, besteht kein Zweifel daran, dass gerade wegen der verstärkten globalen Wechselwirkungen die Gesamtentropie des Systems Weltgesellschaft bzw. Weltwirtschaft zunimmt.“ Diese Zunahme könnte für unsere künftige Welt gefährlich werden.
Aus der Sicht von Kybernetik und Thermodynamik besteht also die reale Gefahr einer Verschlechterung der Situation mit der Zeit. Die Suche nach wirksamen Gegenmassnahmen drängt sich weiterhin auf.
Etwas optimistischer wirken Erkenntnisse der Emergenz- und Komplexitätstheorien. Als emergente Phänomene werden in vielen wissenschaftlichen Gebieten wie Physik, Biologie, Mathematik, Psychologie und Soziologie Prozesse bezeichnet, bei denen neue Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente entstehen können. Als Beispiel basiert die Intelligenz des menschlichen Gehirns auf der Zusammenarbeit von einer enormen Anzahl Neuronen. Einzelne Neuronen besitzen eine sehr beschränkte Intelligenz; in Computer Programmen für neuronale Netze sind sie durch einige einfache Regeln simuliert. Ein oft gebrauchtes Beispiel aus der Biologie ist die hohe Intelligenz eines Termiten-Staats, obwohl einzelne Tiere sich nur sehr einfach verhalten.
Eine Parallele zu diesen Beispielen wäre eine neuartige Entität, die aus Elementen „individuelle Menschen“ bestehen würde. Wir Menschen bilden zwar auch grosse Staaten oder Konzerne, die erfolgreicher sind als einzelne Individuen. Jene zeigen aber keine besonders neuen Eigenschaften, verhalten sich ähnlich und verfolgen ähnliche Ziele wie auch einzelne Menschen. Etwa wie eine grosse Anzahl Termiten, die aber konkurrieren und einander bekämpfen würden.
Gibt es bereits Anzeichen der Entstehung einer höheren Entität „Menschheit“? Wenn man die hier erwähnten wissenschaftlichen Disziplinen anwendet, kann dies nicht beantwortet werden, es drängt sich aber der Vergleich mit der Entwicklung von individuellen Menschen während ihres Lebens auf.
Ein neugeborenes Kind nimmt erst nach einer gewissen Zeit seine Umgebung und später sich selbst wahr. Es folgt das Erkennen der Zusammenhänge sowohl technischer wie auch sozialer Art. Ein heranwachsender Mensch beginnt auch aktiv auf seine Umgebung zu wirken und wird sich dieser Fähigkeit bewusst. Dann folgt die Phase der Pubertät, charakterisiert durch das Streben nach Selbständigkeit und das Ablehnen von Vorschriften. Gleichzeitig kommen angeborene Tendenzen der Rivalität. Daraus resultieren oft unreife Tendenzen zu Rivalitätskämpfen, die Ablehnung auch durchaus vernünftiger Verhaltensregeln und die mangelhafte Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen.
Haben die Menschen eine gewisse Reife erlangt, so genügen den meisten die pubertären „Spiele“ nicht mehr und ein erwachsenes Individuum beginnt seine Zukunft zu planen. Beruf, Familie, Interessen, Freizeit werden als Ziele formuliert und Schritte zu deren Erreichen werden unternommen.
Zieht man die Parallele von einem heranwachsenden Kind zur Menschheit, so hat diese begonnen die Naturgesetze, soziale Zusammenhänge und sich selbst wahrzunehmen. Die revolutionäre Entwicklung der Technik eröffnete die Möglichkeit, die Umgebung zu beeinflussen bis zur Kreation unserer modernen Welt. Doch fehlt leider die Tendenz der Ablehnung vernünftiger Verhaltensregeln nicht, und ebenso mangelt es an Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Viele Verhaltensweisen der heutigen Menschheit erinnern an die Phase der Pubertät bei einem Individuum. Es bleibt zu hoffen, dass wir als Menschheit bald in die nächste Phase übergehen werden mit dem Verzicht auf unreife Aktivitäten, und mit der Planung eigener Zukunft.
Mit Begriffen wie Ziele und Planung der Zukunft beschäftigt sich die Teleologie, die Lehre, dass sich alles nach einem zielorientierten Plan entwickelt. Seit Jahrtausenden entwarfen viele grosse Denker, Philosophen und Theologen Theorien, wer – oder was – ein solches Ziel festgelegt hat und wie eine entsprechende Steuerung zustande käme. Für die Gläubigen ist der Planer der Schöpfergott. Andere Denker vermuteten die Teleologie als den Erscheinungsformen im Universum innewohnende Eigenschaften (Aristoteles). Die meisten teleologischen Konzepte setzen ein externes wirksames Agens voraus. Die Dinge, die sich entwickeln, sind selber nicht die Planer.
Gegner der Teleologie lehnen solche Vorstellungen ab, weil diese – insbesondere das handelnde externe Wesen – wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden können. Dagegen ist aber der Begriff „teleologisches Denken“ akzeptiert und ein Gegenstand wissenschaftlicher Studien geworden. Zum Beispiel stellte man in ausgedehnten CSR (Cognitive Science of Religion) Experimenten fest, dass auch überzeugte Teleologie-Kritiker teleologisches Denken anwenden, wenn sie auf gestellte Fragen in Zeitdruck antworten müssen.
Ungeachtet solcher theoretischen Überlegungen gibt es in unserer Welt unzählige konkrete Beispiele, in denen wir Menschen die Entwicklung eines realen Wesens mit einem bestimmten Ziel geplant und auch realisiert haben. Wir entwickeln schon lange Pflanzen und Tiere mit den von uns gewünschten Eigenschaften, zuerst durch geplante Zucht, neuerdings auch durch genetische Manipulationen. Die Teleologie als solche gibt es bereits, der Mensch kann als ein planendes Agens wirken.
Die entscheidende Frage ist: Kann die Menschheit auch für sich selbst Ziele setzen, deren Erreichen planen und entsprechend die eigene Entwicklung steuern? Es scheint, dass wir dazu bereits in der Lage sind. Wir können unsere Umgebung selber kreieren und wir können unsere Entwicklung in Richtung besserer Zukunft beeinflussen. Kognitives und abstraktes Denken, das Bewusstsein, differenzierte Kommunikation, das Studium von sozialen und psychischen Gesetzmässigkeiten, die Extrapolation der weiteren Entwicklung in die Zukunft etc. bieten uns die Möglichkeit, eine nächste Revolution ins Leben zu rufen: die eigene Entwicklung planmässig, ein Ziel anstrebend zu steuern. Ob es eine Teleologie mit externen Planern gibt, wissen wir nicht. Wir können aber als eigene Planer eine Teleologie realisieren: die Autokreative Teleologie.
Wir können die weitere Entwicklung unserer Welt und uns selber zwar nicht genau voraussagen, aber wir können sie beide selber planen und steuern!
Dazu gibt es bereits zahlreiche Anleitungen, wie Gebote und Verbote, philosophisch-moralische Konzepte, logische Ableitungen oder juristisch festgehaltene Gesetze. Diese bewährten sich sicher in vielen Fällen, versagten aber auch zu oft. Als Beispiel genügen bei zu vielen Menschen die Kenntnis der Zehn Gebote, die Weisheit ethischer Denker oder die Logik Immanuel Kants über das korrekte Handeln eines „vernünftigen Wesens“ nicht, um ihr eigenes Verhalten zu verändern. Gebote, Verbote, Anweisungen, Mahnungen und Drohungen kommen offensichtlich nicht gut an, insbesondere wenn sie vom Verzicht auf die bisherigen Belohnungen begleitet sind.
Das Ziel der künftigen Entwicklung wäre dann ein Mensch, der die „vernünftigen Anweisungen“ nicht aus Gehorsam und unter Verzicht auf Lebensfreuden befolgt, sondern weil dies zu seinem neuen, natürlichen Verhalten geworden ist und weil er diese neue Welt auch mehr geniesst. Selbstentwicklung als nächste Stufe der Selbststeuerung.
Das Projekt der Autokreativen Teleologie gehört in das Arbeitsfeld von Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Pädagogik, aber auch Politik, Wirtschaft und Kultur allgemein. Es macht den Eindruck, dass hier einzelne Menschen kaum etwas bewirken können. In der Tat ist es aber umgekehrt. Eine positive Entwicklung eines jeden Menschen ist nicht nur wichtig, sondern sogar eine grundlegende Bedingung für die geplante Evolution. Dem Argument „Das wäre nur ein Tropfen auf den heissen Stein“ kann entgegengesetzt werden, dass ein Regen auch nur aus Tropfen besteht, aber jeden Stein abkühlen kann, und dass auch Hurrikane aus Tropfen bestehen.
Aus der Sicht der hier diskutierten technisch wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es gute Voraussetzungen, dass wir Menschen Schritte in Richtung bessere Welt und bessere Menschen machen können.
In der Thermodynamik, aber auch in vielen anderen Gebieten der Physik und Chemie kommt es zu einer Veränderung, wenn ein Gradient, ein Gefälle oder eine treibende Kraft, vorhanden ist. In unserer modernen Welt gibt es mehrere solche Antrieb hervorrufende Gegebenheiten. Als Beispiel fühlen sich gemäss Umfragen ungefähr zwei Drittel der Menschen in den westlichen Ländern in ihrem beruflichen Leben überlastet und/oder unzufrieden. Sie leiden unter Zeitdruck, gespannter Atmosphäre, Leistungszwang, zu grossen Aufgabemengen u.v.m. Deshalb ist es auch verständlich, dass ein überforderter Mensch die schnelle, eher anspruchslose Erholung sucht und Angebote der Belohnung des Kleinhirns wählt. Ausgedrückt in regelungstechnischer Formulierung ist die heutige Situation (Istwert) deutlich verschieden von einem Ziel (Sollwert) – ein zufriedenes Leben ohne unnötigen Stress und mit gebührender Freizeit zu führen. Es besteht also ein Gefälle, eine treibende Kraft, die eine Korrektur herbeizuführen anstrebt.
Da jeder Mensch einmalig ist und in seiner einzigartigen Welt lebt, wird die konkrete Art der „Tropfen“ in Richtung Selbstentwicklung bei jedem Menschen anders. Es genügt, wenn sich jeder vorstellt, wie er in einer gegebenen Situation etwas fortgeschrittener handeln könnte.
Hier einige Beispiele, wie die treibende Kraft im Rahmen der hier diskutierten Phänomene wirken kann:
– Der von Richard Dawkins beschriebene „erweiterte Phänotyp“, in Kürze unsere moderne Welt, beeinflusst rückwirkend unser Verhalten. Wenn wir diese Welt verändern, haben wir bereits zu unserer Evolution beigetragen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Fall „Bonomo“. Eine Gruppe von Schimpansen, getrennt von ihrem ursprünglichen Stamm vor zwei Millionen Jahren durch den Fluss Kongo, entwickelte sich von der kämpferischen, aggressiven Spezies zu einem friedfertigen, geniesserisch lebenden Volk. Die einzige Erklärung dieser Evolution ist, soweit bekannt, nur die scheinbar minimale Veränderung des Habitats. Die Welt macht uns, aber auch wir können selber die Welt machen.
– Zwei weitere konkrete Möglichkeiten sind bei Joachim Bauer zu finden: Der Präfrontale Cortex (hier das Grosshirn) kann auch kognitiv festgelegte Verhaltensweisen belohnen und Glücksbotenstoffe freisetzen. Die Selbstentwicklung bedeutet nicht eine mühsame Selbstzüchtigung, sondern ein erfülltes, zufriedeneres Leben.
– Bauer betont weiter, dass die Fähigkeit des Grosshirns zur Selbstkontrolle, Selbststeuerung und harmonischen Zusammenarbeit mit dem Kleinhirn nicht angeboren ist, sondern erst während der ersten zwanzig Lebensjahre ausgebildet wird. In Kürze: Am einfachsten können wir unsere Zukunft durch die Erziehung der Kinder beeinflussen. Heute formen die meisten Eltern und unser Schulsystem den Nachwuchs fast ausschliesslich in Richtung Erfolg, Karriere oder einfach „es weiter zu bringen“. Die Alternative ist, weiter zu bringen in Richtung auf eine bessere Welt und zufriedenere Menschen.
– Eine andere Motivation könnte dank dem weit verbreiteten Wunsch nach Freiheit entstehen. Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie wenig Freiheitsgrade ihnen in der neuen modernen Welt effektiv noch bleiben. Schöpferische Selbstentwicklung braucht einen freien Raum, wird aber belohnt.
– Die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ beschäftigt die meisten Menschen erst im späteren Alter. Dann können sie aber nur auf Erlebnisse aus den Zeiten zurückblicken, in denen sie diesem Thema kaum Aufmerksamkeit schenkten. Das kann enttäuschend werden, wie zwei krasse Beispiele zeigen:
In unserer modernen Welt mit dem grossen Anteil an Konkurrenz gilt das erreichte Eigentum als eines der wichtigsten Merkmale von erfolgreichem Leben. Einige der reichsten Menschen der Welt schliessen sich aber der Bewegung „giving pledge“ (Versprechen geben) an. Sie wollen vor dem Tod das meiste ihres Vermögens wieder verschenken. Das alleine ist eine edle Geste, dahinter steckt aber eine beinahe erschreckende Feststellung: das Resultat der Jahrzehnte andauernden Bemühungen erscheint ihnen jetzt als etwas, was sie eigentlich gar nicht brauchen oder zu schätzen wissen. Etwa wie der Pharao, der sich Monumente bauen liess, aber vor dem Tod sagt: „Es hat Spass gemacht, Pyramiden bauen zu lassen, aber jetzt interessiert es mich nicht mehr, ihr könnt die Steine wieder haben“.
Das andere Beispiel sind Menschen, die während der Corona Pandemie auf einige „Belohnungen“ des Kleinhirns verzichten mussten. Viele haben dabei sehr gelitten, aber einige konnten dadurch realisieren, wie viele der vermissten Aktivitäten vorwiegend auf Angst vor „Leere“ beruhten, und durch „Programme“ mit wenig Sinn oder Qualität gefüllt werden mussten.
Abschliessend folgt der möglicherweise aussichtsreichste Weg zu autokreativer Teleologie: Die Theologie. Aus der Sicht der meisten Religionen ist die hier diskutierte komplizierte Problematik eine einfache Selbstverständlichkeit. Am Beispiel des Christentums hat Gott die Welt nach seiner Vorstellung erschaffen und verfolgt durch planmässiges Wirken ein Ziel. Eine der wichtigsten beobachtbaren Eigenschaften seiner Welt ist die Fähigkeit und Tendenz sich zu entwickeln. Dies ist offensichtlich ein Teil von Gottes Planung und gilt insbesondere für den Menschen, der ja zu seinem Ebenbilde werden soll.
Die ersten Menschen waren von einem solchen Ziel noch weit entfernt. Kain verfällt dem sinnlosen Konkurrenzkampf mit seinem Bruder, Jakob betrügt den Bruder und den Vater, und Hunderte Seiten der Bibel sind mit Berichten über alle Arten ähnlicher „Abscheulichkeiten“ gefüllt. Gott schuf den Menschen offensichtlich noch unvollkommen, aber mit einem Potential zur Weiterentwicklung. Gott unterstützt dabei den Menschen, jeweils angemessen an dessen Fähigkeiten. In vorchristlichen Zeiten waren es Anleitungen, wie zum Beispiel die Zehn Gebote. Mit steigender mentaler Kraft begannen die Menschen selbst, ethische Überlegungen anzustellen.
Das Thema der selbstgesteuerten Entwicklung beginnt schon im Alten Testament, zum Beispiel bei Ezechiel. Gemäss seiner Schilderung wird der Auftrag Gottes formuliert als: „Werft all eure Vergehen von euch, mit denen ihr euch vergangen habt, und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist!“ (Ezechiel 18.31). Der Befehl „Schafft Euch!“ bedeutet, dass die Menschheit die Initiative und die Durchführung aktiv übernehmen muss. „Neues Herz und neuer Geist“ ist ein wunderschönes Gleichnis für Wesen, die keine „Abscheulichkeiten“ begehen. Und sie begehen sie nicht darum, weil es verboten ist, sondern weil ihr neues Herz und neuer Geist nicht danach begehren.
Wir sind heute durchaus in der Lage, den Auftrag Gottes zu erfüllen. Die Religion ist eine ideale Plattform dafür. Mehrere Milliarden gläubiger Menschen können täglich einen „Tropfen“ dazu beitragen. Religion ist auch in vielen demokratischen Ländern weitgehend von politischen und wirtschaftlichen Einflüssen unabhängig. Wichtig ist auch die eigene, vom erfolgsorientierten Schulsystem unabhängige religiöse Erziehung. Gläubige Menschen müssen dabei nicht lange suchen, was sie für den Weg in Richtung einer besseren Welt tun müssen. Es genügt die Überlegung, ob sie bei jeder Handlung der Vorstellung von Gottes Ebenbild näher kommen.
Schlussbemerkung: Dieser Text kann keine Anleitung für konkrete Handlungen enthalten, denn sie hätte wieder nur den Charakter von Geboten oder Verboten. Wenn aber ein/e Leser/in in seinem Leben und in ihrer Welt in jeder Situation, bei jeder Entscheidung, und bei jeder neuen Lebensorientierung ein Ziel in Richtung positiver Weiterentwicklung unserer Rasse und unserer Erde entdeckt und realisiert, dann hat er/sie die autokreative Teleologie soeben selber ins Leben gerufen. Vielleicht entdeckt er/sie dabei auch etwas vom Sinn des Lebens und geniesst die Freude ein besserer Mensch in einer besseren Welt zu sein.
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