Die biblische Geschichte von den Talenten wird allgemein verstanden als eine Anweisung fleissig zu sein. Menschen, die ihre Fähigkeiten initiativ und mit vollem Einsatz nutzen, werden belohnt. Einer, der faul oder ängstlich ist, wird schlecht bewertet oder bestraft. Diesbezüglich sind die Botschaften der Evangelisten Matthäus und Lukas identisch.
In der Version von Lukas fällt aber die detaillierte Beschreibung des Herrschers, der den Auftrag seinen Dienern gibt, auf. Lukas widmet ihm einen überwiegenden Anteil seines Textes. Der streng herrschende Fürst möchte König werden, obwohl er vom Volk nicht akzeptiert ist. Er gibt seinen Dienern viel Geld, ohne genau zu definieren, was sie damit tun sollen. Das sollten sie selber wissen, weil sie ihn ja kennen. Seine Vorstellung von „treuen“ Dienern bestätigt sich bei seinem Urteil nach der Rückkehr. Alle, die sein Geld vermehrten, werden belohnt – übrigens jeweils in der Form einer Machtposition. Derjenige, der das ihm anvertraute Geld nur aufbewahrte, wird gescholten. Dieser Herrscher vertritt auch die „Philosophie“, «wer viel hat, der bekommt noch mehr, und wer wenig hat, dem wird noch weggenommen». Er bezieht diese Aussage auf Geld und Macht, wo sie auch oft stimmt. Zum Schluss lässt er die Menschen, die sich seiner Macht nicht fügten, hinrichten.
Der Sprung bis in unsere Zeit ist ernüchternd. Einen Diktator in unserer modernen Welt könnte man kaum besser darstellen. Er ist angetrieben von Herrschsucht, umgibt sich mit einer Schar treuer Diener, belohnt sie mit Machtpositionen, verurteilt alle, die sein System nicht voll unterstützen, und entledigt sich der Regimekritiker in einer der zahlreichen möglichen Formen. Einige tarnen ihre Ziele mit religiösen oder politischen Vorwänden oder anderen beliebigen –Ismen. Doch es geht immer nur um Geld oder Macht.
Die Beschreibung des Fürsten mit den Talenten lässt sich mit einem Gedankenexperiment noch besser veranschaulichen. Stellen wir uns vor, wir könnten Lukas besuchen oder er könnte in unsere Zeit reisen. Aus seiner Sicht müsste er uns für Götter halten. Wir haben offensichtlich Wunder vollbracht. Wir fliegen durch die Lüfte, töten mit Blitz und Donner auf grosse Distanzen, sehen Personen, die gar nicht vor uns stehen, beherrschen allerlei magische Kräfte, erwecken tote Menschen zum Leben, stellen Maschinen her, die für uns arbeiten oder sogar denken, bauen himmelhohe Türme und herrschen über die ganze Natur.
Seine Begeisterung für unsere unglaubliche Entwicklung müsste aber eher unsere Bedenken wecken. Wir fliegen zwar durch die Lüfte und können auf Distanz töten. Doch die „Mächtigen“ unserer Welt haben gar keine Entwicklung durchgemacht. Aggressive Schimpansen, Kain, Jakob, Pharao, der „Fürst der Talente“ und unsere Diktatoren sind sozusagen identisch. Hitler hätte, wie der Pharao, den Kampf nie aufgegeben, Stalin hatte zwanzig Millionen „konterrevolutionäre“ Landsleute umbringen lassen und die Anführer der Roten Khmer liquidierten die halbe Bevölkerung des Landes, wenn deren Aussehen nicht ihrer Vorstellung entsprach (zum Bespiel die Brillenträger). Diese Liste hat leider kein Ende; sie wird ständig weitergeführt. Der Unterschied ist nur, dass Schimpansen mit Zähnen, Pharaos Soldaten mit Schwertern, spätere Fürsten mit Schusswaffen töteten und heutige Diktatoren mit Massenvernichtungswaffen töten können.
Die Hoffnung, dass in der Zukunft weniger solche Machthaber auftauchen, ist eine Illusion. Die Wahrscheinlichkeit, dass einige maligne Mutanten pro Milliarde Menschen entstehen, bleibt noch lange real. Das ist aber gleichzeitig die gute Nachricht. Keiner der Protagonisten des Bösen konnte alle Missetaten allein verüben. Zu ihrem Talent gehörte immer die Fähigkeit, grössere Massen der „normal“ bis altruistisch veranlagten Bevölkerung zur Kooperation zu gewinnen oder zu zwingen. In allen Diktaturen der Welt haben immer auch durchaus vernünftige, anständige Menschen aktiv mitgeholfen. Wie ist so etwas möglich?
Eine mögliche Antwort gibt wieder die Bibel: das Thema «Götzen». Es wiederholt sich mit Nachdruck an vielen Stellen. Sollte das Verbot von Götzen als Schutz eines eifersüchtigen Gottes vor Konkurrenz dienen? Oder eher eine der unglaublich vorausschauenden Weisheiten der Bibel zum Schutz der Menschheit sein?
Viele Menschen zeigen ein gewisses Bedürfnis nach einer führenden Persönlichkeit, der sie sich unterwerfen können, die sie aber auch schützt. Als sich Mose nur für kurze Zeit entfernte, hielt das Volk das Führer-Vakuum nicht aus und baute sich als Ersatz das goldene Kalb. Ein Falsifikat, dem man zu Füssen fallen kann, das aber keinen Schutz zu bieten vermag. Im Falle von einfachen Götzen wie ein Kalb vergeuden die Menschen nur ihre Energie und Zeit, die sie sonst viel besser einsetzen könnten. Das erkannte schon Samuel (12,21): „Und weicht nicht ab zu den nichtigen Götzen; sie nützen euch nichts und können euch nicht erretten, denn sie sind nichtig“.
Die Führer-Falsifikate können aber die Massen auch zu selbstvernichtenden Abenteuern verführen. Psalm 106,36 prophezeit es deutlich: „Und sie dienten ihren Götzen, und diese wurden ihnen zum Fallstrick“.
Ist hier eine Entwicklungstendenz zu sehen? Auf den ersten Blick vor allem im Erfinden von neuartigen Götzen. Die alten waren einfache Gegenstände, wie das goldene Kalb. Von materiellen Darstellungen ging es aber ständig weiter zu „symbolischen“ oder „imaginären“ Götzen. Die heutige Duden-Definition „Götze“ lautet: „Person oder Sache, die zu jemandes Lebensinhalt wird, von der sich jemand sklavisch abhängig macht, obwohl sie es nicht wert ist. Beispiel: Profit und Konsum sind die Götzen der modernen Gesellschaft“.
Die Machthaber haben sich nicht bedeutend verändert. Wir, ihre Diener leider auch nicht.
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