Die Geschichte von Damaskus wird oft verstanden als eine von Gott ausgeführte Verwandlung eines bösen Menschen Saulus in einen guten Menschen Paulus.

Eine solche göttliche Tat wäre aber eher eine grosse Ausnahme. Die Bibel beschreibt unzählige Bedrohungen von Christen durch ihre Verfolger. Die Methode der „Konversion“ eines Bösen in einen Guten ist aber nicht die übliche Art von Gottes Handlungsweise. Könnte das „Wunder von Damaskus“ anders verlaufen sein und steckt dahinter sogar noch eine Botschaft für uns?

Von Saulus wissen wir, dass er ein gelehrter Theologe war. Das, was er glaubte, verteidigte er mit vollem Einsatz. Dazu war er sehr begabt, auf seine Art tüchtig, engagiert, vielleicht auch ehrgeizig. Das zeigte sich nicht nur bei der Verfolgung der Christen; mit gleichem Fleiss setzte er sich schon vorher gegen diejenigen ein, welche die Mizwot der Thora – die Vorschriften des orthodoxen Judentums – nicht vollständig einhielten. Befolgte er bloss besonders eifrig die Befehle des Hohepriesters? Anders gefragt: Diente er dem Götzen der Gesellschaft, in der er geformt wurde, einem komplexen Gemisch von zeitlich und lokal herrschender Prägung, Erziehung, Moral etc.?  Einem Götzen, den man per Definition als „Person, Sache, Idol, Glaube, Kultur, kollektives Sein“ oder auch anders bezeichnen kann.

Saulus war unterwegs nach Damaskus, vielleicht bereits bei der Planung seiner Aktion, „Männer und Frauen, die «den neuen Weg» befolgen, zu fesseln und nach Jerusalem zu transportieren“. Konkret konnte er sich das Bild vorstellen, wie gefesselte Frauen und Männer in der Hitze der Wüste angetrieben würden.

In dem Moment hört er die Stimme: „Saulus, Saulus warum verfolgst Du mich?“ Saulus weiss sehr wohl, um welche Verfolgung es sich handelt. Und es wird ihm auch klar, dass der Rufer, der sich als Jesus meldet, offensichtlich für seine verfolgten Anhänger spricht. Die Frage kommt also von diesen Menschen: „Saulus, warum fesselst und tötest Du uns?“ Es ist eine konkrete schlichte Frage. Aber eine mit enormer Wucht. Es geht um Leben und Tod. Saulus stellt sich nun diese Frage selbst: „Warum fessle und töte ich diese Menschen?“ Mit dem Bild der gefesselten Menschen vor seinen inneren Augen stellt Saulus fest, dass er dieses nagende Warum nicht beantworten kann. Er fällt zu Boden, sieht nicht, was um ihn passiert, und wird sprachlos. Drei Tage lang.

Was sich in seinem Inneren während dieser Zeit abspielte, können wir nicht genau wissen, vielleicht aber doch ahnen. Als gewissenhafter Beamter hätte er dieses «Warum» zuerst zu verdrängen versucht: „Es ist meine Aufgabe, die ich zu erfüllen habe“. Dann wäre aber die Antwort gewesen: „Ich habe mich wie ein nicht denkendes Mitglied eines Systems verhalten, etwa wie ein Rad in einer Maschine“.

Die andere Möglichkeit ist nicht viel besser: „Wenn ich es nicht tue, tut es ein anderer Gefolgsmann des Hohepriesters!“ Damit hätte Saulus sich selber zugegeben, dass er Menschen in den Tod schicke aus dem trivialen, beschämenden Grund der Rivalität mit Seinesgleichen.

Das Wunder des Warum lässt Saulus keine Ruhe, bis er feststellen muss, dass er die Frage nicht beantworten kann, jedenfalls nicht mit einer Erklärung, mit der er sich ehrlich selber identifizieren könnte. Die Schuppen fangen an, von seinen Augen zu fallen. Vielleicht einzeln, eine nach der anderen. Warum will eigentlich der Hohepriester diese Menschen, die niemandem etwas Böses tun, vernichten? Warum erledigen die Männer seiner Truppe die Massaker, als ob dies eine normale, übliche Tagesarbeit wäre?

Vielleicht kommt Saulus zu einer schwierigen Feststellung. Er muss sich selbst zugeben: „Ich habe weder an die Gründe noch an die Folgen meiner Handlung gedacht“. Weil er in seinem Herzen schon vorher kein böser Mensch war, muss er Reue für seine Taten empfunden haben. Und weil er nach wie vor auf seine Art tüchtig, engagiert, vielleicht auch ehrgeizig ist, sucht er gleich Wege, wie er seine Schuld abzahlen und in Zukunft etwas Gutes tun kann. Wenn ihn dann ein Mitglied der dem Tode geweihten Gruppe, die «den neuen Weg» geht, berührt und als „Bruder“ anspricht, ist das Wunder der Metamorphose vollbracht, das vom Wunder des Warum eingeleitet wurde. Der Apostel Paulus steht auf und setzt alle seine Kräfte ein, um das Wort Jesu zu verbreiten.

Er hat sich selber verändert, indem er seine eigenen Fähigkeiten zum Denken anwandte. Als Folge veränderte sich auch sehr viel in unserer Welt.