Die überwiegende Mehrheit der Menschen wünscht sich Frieden, Kooperation und rationelle Lösung von Konflikten. Ein paar Diktatoren, unterstützt von einer beschränkten Anzahl ihrer aktiven Anhänger setzten sich aber wiederholt durch, beginnen Kriege, überfallen andere Länder und unterjochen die fremde wie auch die eigene Bevölkerung. Wieso gelingt ihnen das alles? Haben sie bessere Gehirne oder sind sie effizienter «verdrahtet»? (Diese und eine ähnliche Problematik werden in diesem Blog auch z. B. bei Themen «Wir und unsere Zukunft» diskutiert.)

Wissenschaftler und Forscherinnen, vor allem Neurobiologen, behaupten, dass wir alle etwa gleiche Gehirne haben – allerdings zwei davon. Allgemein bekannt sind Begriffe wie Klein- und Grosshirn, Fachleute sprechen vom Basis- oder Triebsystem und Präfrontalen Cortex. Eigenschaften des Basissystems, wie zum Beispiel reflexhafte Reaktionen in Gefahrsituationen oder zur Verteidigung des Territoriums, haben wir von unseren genetischen Vorfahren geerbt. Das Grosshirn ist dagegen viel flexibler, kann lernen und ermöglicht rationelles Denken. Theoretisch ist es dem Kleinhirn überlegen.

Aber nicht immer, wie auch das Geschehen in der Ukraine beweist. Viele moderne Wissenschaftler glaubten daran, dass die Gefahr von Kriegen abnehme, eine positive Entwicklung im Gange sei und sich der Wettstreit zwischen den Mächten von territorialen Ansprüchen auf wirtschaftliche Konkurrenz verschiebe. Buchstäblich über Nacht wird wieder um Territorium gekämpft, der Konflikt kann unkontrolliert eskalieren, der kalte Krieg ist neu voll entflammt, und es wird mit dem Einsatz von atomaren Waffen gedroht.

Haben unsere Grosshirne versagt? Nicht direkt, eher haben wir die Macht des triebhaften Kleinhirns unterschätzt. Diktatoren und ihre Anhänger sind überdurchschnittlich empfänglich für Macht, Konkurrenz, Kampf, Erobern, Beherrschen, Führen, die Grösse des eigenen Landes und seine glorreiche Vergangenheit etc. Sie reagieren etwa wie eine Stimmgabel selektiv auf Signale der gleichen Wellenlänge. Vor allem kann diese Art Grundstimmung das rationelle Denken des Grosshirns zu seinen eigenen Zielen gebrauchen:

Die Macht von Putins professionell geführter Propaganda ist sehr erfolgreich. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung unterstützt ihn und billigt den Überfall auf die Ukraine. Es ist ihm sogar gelungen, Menschen in den demokratischen Ländern zu beeinflussen. Als Beispiel sollte jeder dritte Jugendliche bei uns «Verständnis für Putin» signalisieren.

Die Macht des Alleinherrschers ist offensichtlich stärker als die Kraft des rationalen Denkens. Sonst könnte die russische Regierung nicht jedes Mal alle neuen Gesetze, die ein denkender Mensch für unakzeptabel halten müsste, einstimmig annehmen.

Die Macht der Diktator-Anhänger blüht sogar angesichts der Gräueltaten in diesem Krieg. Es gibt «Putinophile» in der Ukraine. Wahrscheinlich konnten sie unter der Diktatur ein gutes Leben führen.

Welche Möglichkeiten haben unsere Grosshirne, um unsere Zukunft ausreichend zu sichern? Das ist eine grosse Aufgabe für führende Soziologen, Politikerinnen, Psychologen etc. Gemäss der Meinung eines Laien-Grosshirns müssten wir hier vor allem Folgendes ernst betrachten:

Der Krieg in der Ukraine wird als Rückfall in das letzte Jahrhundert kommentiert. In der Tat verhält es sich aber noch viel schlimmer: dieser Krieg zeigt, dass wir in der Jahrtausende alten Falle der Diktaturen gefangen sind und bleiben. Die soziale Struktur in Ägypten unter den Pharaonen beruhte bereits auf einem Allein- und Dauerherrscher. Er nutzte die Macht der Propaganda, indem er sich zum Halbgott ernannte. Er herrschte über das Volk auf eine Art, die als Sklaverei bezeichnet werden muss. Dazu bediente er sich der Macht seiner Anhänger, welche jeglichen Widerstand der Bevölkerung unterdrückten. Zur Zwangshandlung der Diktatoren gehörte schon damals auch der Drang nach Eroberung benachbarter Völker, eine «Ländersklaverei».

Im Verlauf der folgenden Jahrtausende hiessen die Diktatoren nicht mehr Pharaonen, sondern Monarchen, Kolonialherrscher, Führer, Generalissimus, Grosse Vorsitzende etc. Sie pflegten sowohl fortgeschrittene Arten der Versklavung des eigenen Volkes wie auch die Unterjochung der annektierten Länder.

Heute konstruieren unsere Grosshirne Raketen, die zum Mars fliegen, erforschen «Strings», aus denen die Materie bestehen soll, und studieren Milliarden Lichtjahre entfernte Sterne. Wir beherrschen enorme Kräfte unserer technischen Welt, haben die Kräfte der Natur im Griff – oder glauben es – und können uns mindestens gegen sie schützen. Doch gleichzeitig lassen wir uns von einer «Ethik» beherrschen, die aus den Zeiten stammt, als das Rad noch nicht entdeckt war! Der Überfall auf die Ukraine ist die Handlung eines Pharaonen-Nachfolgers und beruht auf Weltordnung- Vorstellungen eines Steinzeitmenschen. Er erhebt Anspruch auf ein Land, das sein Vorgänger erobert hatte. Ein versklavtes Land hat sich vom Joch des Herrschers befreit und dieser, der ehemalige Besitzer, will es sich mit Waffen zurückholen!

Gibt es Möglichkeiten, wie uns unsere Grosshirne in der Abwehr gegen Diktaturen doch helfen könnten?

Allenfalls die rechtzeitige Erkennung der potenziellen Gefahr. Ernennt sich ein Alleinherrscher zum Dauerherrscher, müsste das sofort als ernst zu nehmendes Warnsignal gedeutet werden. Dieses Signal haben wir bei Putin ignoriert, obwohl es bereits vor mehr als zehn Jahren deutlich war. Ein Dauerherrscher, der Kritik an Stalins verbrecherischem Regime zunehmend unterbindet, die Diktatur und «Sklaven-Politik» der vorherigen Sowjetunion lobt, seine militärische Aufrüstung ausbaut, intensive kämpferische Propaganda in seinem Land betreibt, demokratische Rechte wie das Recht auf Meinungsäusserung unterbindet, Regime-Kritiker misshandelt etc., müsste als Gefahr für die Weltbevölkerung deklariert werden – mit allen Konsequenzen.

Die heutige Situation ist ernst genug, um alle Möglichkeiten zur Vermeidung der gleichen Fehler in der Zukunft zu erwägen. Die heute geplanten und teilweise bereits getroffenen Massnahmen gegen Putins Regime wären deutlich einfacher und wirksamer, wenn wir sie vor zehn Jahren angewandt hätten.

Dazu gehören namentlich wirtschaftliche Sanktionen. Die Macht der Wirtschaft ist gross, aber «beidseitig». Vielleicht ist das auch eine Erklärung, warum wir vor zehn Jahren nicht genügend effektiv handelten. Wir können Diktatoren deutlich schwächen, wenn wir aufhören, ihre Rüstung zu finanzieren. Konkret heisst das aber, dass wir anderswo weniger günstige fossile Brennstoffe einkaufen oder auf Produkte billiger Arbeitskraft verzichten müssen. Das sind jedoch die nötigen Voraussetzungen, um uns aus der Falle der «Pharaonen-Ethik» zu befreien.

Wir müssen auch Erkenntnisse der Neurobiologie, Soziologie und Psychologie ernst nehmen. Unsere zwei Gehirne, inklusive ihr Potenzial zu aggressiven Handlungen sind genetisch verankert und werden sich nicht innerhalb der kommenden Jahrtausende verändern. Unsere genetischen Vorfahren, aggressive Schimpansen mit Verhaltensweisen, die auffallend an unsere Diktatoren erinnern, haben es zwar im berühmten Fall Bonomo geschafft, es hat aber zwei Millionen Jahre gedauert. Vermutlich hatte die Veränderung ihres Habitats dazu beigetragen. Diese Zeit haben wir jedoch nicht, und das tägliche Leben in unserer Welt wirkt auch nicht als ein Frieden förderndes Habitat: Konkurrenzkämpfe sind das wichtigste Element in unserer Gesellschaft, und unsere Kultur überbietet sich mit Darstellungen von Brutalität. Aggressive Diktatoren mit der Moral des Steinzeitmenschen werden noch während Jahrtausenden entstehen und ähnlich veranlagte Anhänger mobilisieren.

Gibt es da eine Lösung? Ja. Die Sklaven waren Jahrtausende lang gegen Diktatoren und ihre Anhänger machtlos. Das sind wir heute nicht mehr. Wir haben zahlreiche Denker, Wissenschaftlerinnen und Philosophen, welche die Gefahr der Diktatoren schon früher erkannten. Es gehörte aber zu den edlen Einstellungen der Weisen, ihre Lehre und Erkenntnisse niemandem aufzuzwingen. Das wird aber wahrscheinlich nötig. Die Macht der Milliarden normal veranlagter Menschen kann humane Rechte verteidigen. Dazu müssen wir aber aktiver werden.

Zwar können wir nicht verhindern, dass unter den Milliarden Menschen der Weltbevölkerung einige potenziell gefährliche Mutanten in der Form von aggressivem Alleinherrscher entstehen. Wir müssen aber verhindern, dass sie gefährliche, insbesondere militärische Macht aufbauen.

Wir können die Propaganda der Diktatoren in ihren eigenen Ländern nicht abstellen. In unserer heutigen Welt mit moderner Kommunikation müssen wir aber Wege zur irregeführten Bevölkerung finden und sie über die Moral des dritten Jahrtausends informieren.

Wir müssen die Chance wahrnehmen, eine bessere Zukunft vorzubereiten, indem wir unsere Kinder nicht nur zu künftigen Erfolgsmenschen schulen, sondern ihnen auch Wertkategorien wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Grundrechte etc. vermitteln.

Immanuel Kant prägte – unter anderem – die imponierende Verknüpfung von drei Ausdrücken: «Vernunft», «kategorisch» und «Imperativ». Er arbeitete dafür jeweils seine eigene Definition aus. Seine Worte haben aber heute eine allgemein akzeptierte verständliche Bedeutung.

Vernunft vereint das kalte Kausaldenken mit der «menschlichen» Seite unserer Gehirne. Vernünftige Menschen können an Wettbewerb oder Konkurrenzkämpfen teilnehmen, erkennen aber deutlich den Unterschied zu irrationalen Handlungen, insbesondere in der Form des Kriegs. Aus dieser Sicht besteht unsere Welt doch aus vorwiegend vernünftigen Menschen. 140 Länder verurteilen die russische Invasion in der Ukraine, fünf billigen sie. Leider genügt nur ein einziger Diktator, um die Welt in eine Katastrophe zu stürzen. Die Vernunft von Milliarden demokratisch veranlagten und geschulten Menschen muss sich hier durchsetzen.

Dabei könnten die Begriffe «kategorisch» und «Imperativ» helfen. Unter «kategorisch» versteht man deutlich, eindeutig, eindringlich, entschieden, entschlossen, definitiv, unumstösslich etc., «Imperativ» bedeutet Gebot, Moralgesetz, Forderung u. Ä.

Die Macht der Vernunft entsteht, wenn sich vernünftige Menschen zusammenschliessen und entschlossen ihre Forderungen nach einer Ethik, die der Menschheit des dritten Jahrtausends würdig ist, tatkräftig durchsetzen.