Eine Diktatur basiert auf der Macht des Alleinherrschers und bedient sich der Macht der Propaganda, effektiv realisiert wird sie aber erst durch die Macht ihrer aktiven Anhänger.

Diese zum Mitmachen zu gewinnen, scheint eine schwierige Aufgabe zu sein, denn ein grosser Teil der vom Diktator verlangten Handlungen steht in krassem Widerspruch zu allgemein akzeptierten Moral- oder Vernunftregeln. Damit dem Alleinherrscher trotzdem genügend Leute folgen, kann er ihnen «hohe» Ziele vorgaukeln. Mitwirken kann vielleicht auch das von Paul Tillich beschriebene Phänomen des «Kollektivismus» – eine Tendenz vieler Menschen, sich einer gemeinsamen Doktrin unterzuordnen.

Bedauerlicherweise spielt dabei aber auch eine andere Motivation eine wichtige Rolle: das Streben nach sozialem Status, nach Macht über andere Menschen oder nach materiellen Vorteilen.

In unserer westlichen Welt lässt sich ein besserer Status in der Regel durch erhöhte Arbeitsleistung, Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit, Zusatzausbildung etc. erreichen. Diese Qualitäten sind oft mit Mühe, Verzicht auf Freizeit oder Zwang zu uninteressanten oder unbeliebten Tätigkeiten verbunden. Der Erfolg ist dabei nicht gesichert. Andere Wege sind ein Vermögen zu erben oder im Glücksspiel zu gewinnen. Diese sind aber nicht durch eigenes Handeln zu erreichen.

In den Diktaturen ist die Situation ganz anders. Für einen – auch extrem hohen – Status braucht es weder Glück noch besondere Fähigkeiten oder Arbeitsleistungen. «Treue» zur Partei und bedingungsloser Gehorsam genügen. Beides gewährt einen hohen Status, wird aber auch überall und jederzeit gefordert – selbst bei der Unterstützung und Durchführung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der Diktator herrscht zwar über alle, seine Anhänger herrschen aber auch: über konkrete Personen in ihrer Umgebung. Das Resultat dieser „Revolution“ in der sozialen Ordnung sieht man im Absturz der Demokratie in den Satelliten-Ländern nach der Machtübernahme durch die Sowjetunion. Man kann das treffend „auf den Kopf gestellt“ nennen. Innerhalb von kurzer Zeit wurden viele Führungspositionen von Personen besetzt, die bisher untergeordnete Aufgaben zu erledigen hatten und weder über Kenntnisse noch Erfahrungen für ihre neue Stelle verfügten. Ehemalige Vorgesetzte landeten als Hilfsarbeiter auf den untersten Stufen der Hierarchie. Dazu gehörten auch einige höher ausgebildete Fachpersonen – wie mein Vater.

Die Frage drängt sich auf, wie die neuen Befehlshaber mit der Situation umgehen konnten, da sie doch ihre Inkompetenz wiederholt erleben mussten, dafür aber freie Hand hatten, ihre Macht zu missbrauchen?

Dazu ein paar Erfahrungen aus dieser Zeit – ich lasse dabei die schlimmsten Ereignisse, die Mitglieder meiner Familie trafen, aus und schildere lieber verhältnismässig harmlose Beispiele.

Im Forschungsinstitut, wo ich angestellt war, mussten elektronische Bauteile im Westen gekauft werden. Dazu arbeiteten die Fachleute eine genaue Spezifikation aus, den konkreten Einkauf in Form einer Auslandreise übernahm aber der Partei Vorsitzende. Er kam zurück mit dem schweren Vorwurf gegen die Elektroniker, sie hätten beinahe viel Geld der „Volksrepublik“ verschwendet und die Kapitalisten dadurch unterstützt, dass sie teure Ware bestellten, obwohl die gleichen Komponenten auch viel billiger erhältlich seien. Zum Glück habe er das entdeckt und entsprechend korrigiert. Die erhaltene Lieferung bestand dann aus Produkten, deren technische Werte den Anforderungen nicht entsprachen und aus dem üblichen Verkauf aussortiert worden waren. Folglich waren sie auch kaum zu gebrauchen. Die Reaktion des Abteilungsleiters war trotzdem eindeutig: Er habe seine Aufgabe richtig erfüllt, jetzt müssten sich diese „Intelligenten“ – er betonte das Wort ziemlich abschätzig – endlich an die Arbeit machen.

Ein anders Beispiel stammt aus Erlebnissen bei den Prüfungen der parteitreuen Absolventen. Das Regime realisierte den Mangel an Kenntnissen vieler Entscheidungsträger und führte „Schnellkurse für Führungskräfte“ ein. Als Mitglied der Prüfungskommission habe ich wiederholt absurde Situationen erlebt: Einer der künftigen „Führer mit Fachkenntnissen“, den alle mit grossem Respekt „Genosse Direktor“ ansprachen, sollte die Skizze einer Pumpe entwerfen. Mein Kollege aus der Fakultät für Mechanik schaute sich die Zeichnung an und meldete nach etwa fünf Sekunden: „Genosse, der Rotor ihrer Pumpe ist grösser als das Gehäuse, wohin es gehört. Diese Pumpe kann man nicht zusammenbauen.“

Eigentlich würde man bei einer Live-Prüfung einen solchen „Tipp-Fehler“ tolerieren, der Schüler würde es schnell einsehen und korrigieren. Die Reaktion des Genossen Direktor war anders. Er lief rot an, schnaufte laut aus und antwortete scharf: „Doch, das kann man zusammenbauen! Dafür sind doch die Monteure da.“ Der Vorsitzende der Kommission, ein Mitglied der Administrationsabteilung, selbst ohne jegliche technischen Kenntnisse, wartete etwas verunsichert für kurze Zeit, fuhr dann aber nach gewohntem Ablauf fort: „Hat jemand sonst noch Fragen?“, und es folgte schnell: „Wenn nicht, ist die Prüfung abgeschlossen. Genosse Direktor, ich gratuliere Ihnen zur bestandenen Ausbildung zum internen Diplomengineer.“

Der frisch gebackene Engineer lies Champagner bringen und wandte sich noch zu uns: „Wissen Sie, Genossen, diese grossen Wissenschaften können schon etwas bringen. Das Wichtigste bleibt aber, dass man die arbeitenden Genossen richtig führen kann.“

Wahrscheinlich übernehmen die Anhänger eines Diktators auch etwas von dessen irrationaler Selbstwahrnehmung seiner eigenen Unfehlbarkeit und wähnen sich als fast-unfehlbare Fast-Diktatoren.

Die Diktatur-Anhänger befriedigen nicht nur ihre Machtgelüste und -ansprüche, sie kommen auch in den Genuss von zahlreichen Privilegien. Kein Wunder, dass sie das herrschende Regime für richtig halten. Das ist wahrscheinlich auch die Erklärung, warum es in der heutigen Ukraine auch Putin-Anhänger gibt. Es sind meistens ältere Menschen, die lange während der Stalin-Diktatur lebten. Sie gehörten dabei aber kaum zur Schicht der Unterdrückten, sondern waren höchstwahrscheinlich Mitglieder der herrschenden Klasse mit allen Vorteilen und Annehmlichkeiten – in einem System, das sich für „kommunistisch“ und somit für klassenlos erklärte.

Die Macht der Klasse «Diktator-Anhänger» unterliegt keiner rationalen Kontrolle. Alle, auch sinnlose, gefährliche oder unmoralische Handlungen werden von ihnen toleriert oder selbst ausgeführt. Dafür werden sie auch belohnt. Kein Wunder, dass sie mit dem Diktator in allen Situationen solidarisch sind – auch im Krieg!