Wir (die halbe Welt) rätseln über Russlands nächste Aktionen im Krieg in der Ukraine. Genauer gesagt über die nächsten Aktionen des Präsidenten Putin. Das ist scheinbar eine beinahe unlösbare Aufgabe, die Menschen sind doch derart unterschiedlich, dass die Prognose des Verhaltens eines Individuums extrem schwierig ist. Allerdings könnte man sich diesbezüglich auf zahlreiche Erfahrungen aus der Vergangenheit stützen. Es gibt mindestens ein Dutzend historischer Figuren, die nach einem beinahe identischen Schema gehandelt haben, wie es Putin bisher tut. Historiker, Soziologinnen, Psychologen und Psychiaterinnen könnten hier eine genügend zuverlässige Schätzung vornehmen, insbesondere beim Bestimmen, ob es eine obere Grenze des aggressiv-kriegerischen Verhaltens gibt.

Eine Einzelperson kann wohl einen Krieg in Gang setzen, ihn aber nicht selber ausführen. Sie braucht zuerst eine Gruppe aktiver Anhänger und dann auch genügende allgemeine Unterstützung der Bevölkerung des Landes. Auch hier gibt es wertvolle wissenschaftliche Kenntnisse, zum Beispiel das Phänomen „Kollektivismus“, beschrieben von Paul Tillich. Zuständige WissenschaftlerInnen könnten begründete Schätzungen über mögliche Reaktionen der russischen Bevölkerung ausarbeiten.

In einem Punkt sind diese Überlegungen für unsere westliche Welt schwierig: in der professionellen systematischen Propaganda von Diktaturen. Darunter verstehen wir das Streuen von Halbwahrheiten und klaren Lügen, ausgeklügelt verdrehter Informationen und Einimpfen von Regungen in Richtung von Bewunderung für die grosse Vergangenheit des Landes etc.

In neuzeitlichen Diktaturen wird die Hirnwäsche bereits bei Kindern angewandt. Die Grundkenntnisse über die enorme Wirkung der Propaganda auf die Jugend sind auch der Wissenschaft bekannt. Der Neurobiologe Joachim Bauer beschreibt in seinem Buch „Selbststeuerung“ anschaulich die Prozesse, die zwischen dem Präfrontalen Cortex und dem Trieb- oder Basissystem ablaufen. Die wichtigste Feststellung ist, dass die Zusammenarbeit dieser Systeme nicht geerbt wird, sondern sich in jedem Menschen während der ersten zwanzig Jahre seines Lebens bildet.  Es handelt sich dabei nicht um Lernen, sondern um Prägen. Folglich wird dadurch das Verhalten der erwachsenen Menschen in vielen sozialen Kontexten langfristig gefestigt.

Was uns im Westen fehlt, sind Erfahrungen mit dem Phänomen von aggressiv-kriegerischer Propaganda. Wir unterschätzen sie bis zur irreführenden Meinung, dass die falschen Informationen einfach durch die Mitteilung der korrekten korrigiert und ersetzt werden können. Es ist ebenfalls eine Illusion, dass tief geprägte Menschen ihre „festverdrahtete“ Sicht schnell ändern könnten und würden.

Haben wir denn gegen alleinherrschende Diktatoren und ihre Propaganda keine Chancen? Doch! Ein Beispiel kommt sogar aus Russland. Nach Stalins Tod kam Nikita Chruschtschow mit seiner revolutionären Kritik am Personenkult und läutete dadurch die Ära der Entstalinisierung ein. Diese wurde eigentlich nie offiziell widerrufen. In den obersten Regierungskreisen Russlands könnte plötzlich ein neuer Wind wehen.

Die andere Chance ist die breite russische Bevölkerung zu erreichen. Zur Zeit ist es besonders schwierig; Putin schottet das Volk praktisch ab. Laut eines frisch erlassenen Gesetzes können „falsche“ Berichte mit einer Freiheitstrafe bis fünfzehn Jahre Haft geahndet werden. Als falsch gilt bereits, den Ausdruck „Krieg“ statt „Friedensmission“ für die Situation in der Ukraine zu verwenden. Es ist aber gleichzeitig ein Beweis, welche Angst Putins Regime vor einem Wechsel der Einstellung des Volkes hat.

Vielleicht müsste man hier auch zu einer für einige Menschen fraglichen Methode, greifen, wie zum Beispiel die bestehenden Kontakte in Sport, Kultur, Internationalen Interessengruppen etc. zu nutzen. Diese haben oft die edle Einstellung, dass sie nicht für politische Zwecke gebraucht werden sollen. Ausserordentliche Situationen verlangen aber manchmal ausserordentliche Handlungen. Somit halte ich persönlich die Absage eines geplanten Spieles, Treffens, einer Musiksendung usw. für vertretbar. Ein Protest in der Form: „Wir haben nichts gegen die russische Bevölkerung, möchten aber mit allen Mitteln gegen den Krieg als primitivste Form der Konfliktlösung demonstrieren“ könnte unsere Partner in Russland motivieren, über die Situation in der Ukraine nachzudenken.

Wie wirksam das Volk, vor allem die Kinder geprägt werden können und wie schwierig man sich in einer Diktatur orientieren kann, könnte ich mit eigenen Erfahrungen demonstrieren, wohl in voller Kenntnis, dass Erlebnisse eines einzelnen Individuums nicht verallgemeinert werden können. Meine Erinnerungen ergänze ich mit einer Deutung aus meiner heutigen Sicht, obwohl diese auch nur meine Sicht der Sache ist. Vielleicht könnte es aber zu einem besseren Verständnis des Verhaltens der Völker in Diktaturen beitragen:

Das Licht der Welt habe ich in der Czechoslovakia erblickt. Meine ersten Erinnerungen stammen aber erst aus der Zeit ein paar Jahre später, als das Land inzwischen „Protektorat Böhmen und Mähren“ hiess. Aus der Schule kommend rannte ich üblicherweise zuerst zu meinem Vater, um ihm von meinen neuesten Kenntnissen zu erzählen, zum Beispiel, dass zwei und zwei vier sei. Sein breites Lächeln signalisierte seine zufriedene Anerkennung meiner Leistungen. An einem Tag berichtete ich bereits über drei plus vier ergibt sieben – Vaters Lächeln kam wie gehofft – fügte aber mit gleichem Stolz hinzu, dass ich jetzt auch wisse, wie man richtig grüsst. Arm mit Hand gestreckt erhoben und dazu „Heil Hitler“ sagen.

Warum kein zufriedenes Lächeln des Vaters kam, habe ich nicht verstanden, sein veränderter Gesichtsausdruck blieb mir aber lange in Erinnerung.

Wenige Jahre später hiess das Land wieder Czechoslovakia und die Menschen tanzten und sangen auf der Strasse. Auf meine Frage haben mich meine Eltern aufgeklärt, alle feierten das Ende des Krieges und das Ende der Angst vor Hitler. Der Lehrer, der uns vorher das „Heil Hitler“ vorführte – vorführen musste –, erzählte neu von Hitlers Verbrechen und sagte, dass wir wieder „normal“ grüssen dürften.

Im Nachhinein vermute ich, dass für mich die Aussage „Hitler ist der grosse Führer“ den gleichen Charakter eines Faktums hatte wie „drei und vier gleich sieben“. Dazu genügten etwa zwei Jahre von „Heil Hitler“.

Überzeugender als der eher verwirrende Ersatz der Hitler-Bilder in allen Schulräumen durch neue, unbekannte Gesichter wirkten in der neuen Welt ungeahnte Freiheiten. Zum Beispiel durfte man den Vereinen wie Pfadfinder oder Turnen, die bisher verboten waren, wieder beitreten. Die Welt war drei Jahre lang für mich entspannt und frei von unverständlichen Problemen.

Dann kamen Horror-Nachrichten über den ermordeten tschechischen Politiker (Jan Masaryk), in Schulklassen hingen Bilder von Stalin, und die neue Zeitung „Rotes Recht“ berichtete über Hinrichtungen von politischen Feinden. Da meine Eltern und die ganze Familie zur führenden Opposition gehörten, begann mein „Präfrontaler Cortex“ die Welt so wahrzunehmen: «Das Böse herrscht, wir als Nation sind praktisch machtlos, geben aber den Kampf und die Hoffnung nicht auf».

Dazu gehörte, dass wir die Pfadfindergruppe, die inzwischen wieder verboten war, heimlich weiterführten. Mit selbstgebastelter Geheimschrift teilten wir uns mit, wo wir uns wieder treffen werden, und erzählten uns Geschichten von „Partisanen“, die heimlich gegen Hitler kämpften.

Eine neue Dimension kam mit dem Thema Feinde des Systems. Wir mussten Stalin und sein Regime loben, gleichzeitig musste alles Westliche, insbesondere die USA, als die Hölle des Bösen dargestellt werden. Mich überraschte, wie viele meine Freunde solche Nachrichten schlussendlich akzeptierten. Als wir statt in die Schule auf Kartoffelfelder geschickt wurden, um Schädlinge zu sammeln – die als „Amerikanischer Käfer“ bezeichnet wurden mit der Behauptung, imperialistische Amerikaner hätten sie in ihrer Verdorbenheit auf unsere Felder gestreut – brummten einige Schüler nach einem verregneten Tag auf dem Feld, dass sich die Amerikaner etwas anderes einfallen lassen sollten.

In den folgenden Jahren wurde das Weltbild für mich immer komplizierter und bedrohlicher. Die Sanktionen gegen Regimekritiker wurden immer schärfer, folglich agierten sie versteckt. Somit konnte aber jeder Mensch in der Tat ein Feind, oder auch ein Mitstreiter sein.

Somit wechselte aber der spielerische Charakter einer geheimen Pfadfindergruppe in den lebensgefährlichen Ernst. Eine Lösung war der „passive Widerstand“. Hier etablierten sich gewisse Spielregeln. Man teilte Witze mit versteckter Kritik, spielte den „Soldaten Schwejk“ oder imitierte höhnisch einen befehlenden inkompetenten Regimeanhänger. Ein Beispiel war mein „Husarenstück“ in der Schule. Ich schaffte es in allen Fächern die besten Noten zu bekommen, dafür aber die schlechteste in Russisch. Das war eigentlich naiv und unvernünftig, ich wurde aber zum Helden des Tages. Allerdings bestellte mich bald der „Verantwortliche für politische Fragen“ (Politruk) und teilte mir mit, dass die Russisch-Lehrerin meine Wertung korrigierte, ich sei doch „genügend“. Sollten sich aber meine Noten nicht sofort deutlich verbessern, wäre das ein Beweis, dass ich für ein weiteres Studium nicht geeignet sei und nach der obligatorischen Ausbildung nur in Kohleminen angestellt werden könnte.

Im Gymnasium erwartete mich eine grosse Überraschung in der Person eines überdurchschnittlich begabten Mitschülers. Er war ein überzeugter Kommunist (in der ursprünglichen Form von sozialer Gleichheit, klassenloser Gesellschaft etc., siehe den Text Kommunismus in diesem Blog) und behauptete, dass er keine diktierte Meinung vertrete, sondern nur reine logische Überlegung. Er habe unzählige Bücher zum Thema gelesen, und der Kommunismus sei die einzige Lösung. Wir sind über Jahre gute Freunde geworden. Eine ähnliche Einstellung, wie er hatte, habe ich später verbreitet in Russland angetroffen.

Zum Thema der möglichen Abwehr gegen die Diktatur und ihre Propaganda erlebte ich während des Studiums eine ausserordentliche Begegnung. Dazu muss ich kurz ausholen. Mein Freund aus dem Gymnasium war bereits Mitglied der Partei und machte mich darauf aufmerksam, dass ich ohne eine „politische“ Tätigkeit nie eine technisch-wissenschaftliche Stelle bekomme. Er organisierte für mich den Titel „Studentensprecher“ (Vorsitzender des Studentenheim-Ausschusses). Somit war ich „im politischen Leben engagiert“. Als solcher musste ich unerwartet auch Beurteilungen von Heimbewohnern schreiben, eine Rolle, die ich bisher nur in den Händen der herrschenden Schichten erlebte.

Einmal kam ein Gesuch der Partei aus dem Heimatort von zwei sympathischen Brüder-Studenten. Die Partei verlangte den Ausschluss beider vom Studium; ihr Vater, ein Kleinbauer, wollte offensichtlich sein Land nicht schnell genug dem „gemeinsamen Wohl des Volkes“ (Kolchos) schenken, folglich hätten seine Söhne kein Recht auf ein Studium.

Ich schrieb eine so gute Beurteilung der beiden Studenten, wie ich konnte, wohl aber mit wenig Hoffnung, dass das viel helfen würde. Dazu bat ich meinen Freund, den Kommunisten, um Rat, ob man etwas mehr unternehmen könne. Nach kurzer Überlegung gab er mir den Namen eines Professors an der Universität. Dieser belege eine recht hohe Position in der Partei.

Das liess mich an einer Hilfe eher zweifeln, doch Professor P. setzte offensichtlich einige Hebel an, und nach langem Tauziehen waren die zwei Brüder gerettet. Während der Rettungsaktionen musste ich Professor P. wiederholt besuchen, wir kamen uns näher und diskutierten auch andere ähnliche Vorfälle. Dann sagte er in einem anderen Zusammenhang, dass man eine schlechte Situation in einer menschlichen Gruppierung bekämpfen könne, das aber nicht immer Erfolg bringe. Manchmal könne es besser sein, selber in diese Gruppierung einzutreten und zu versuchen diese von Innen auf positive Art zu beeinflussen.

Dieser Satz führte zum grössten inneren Kampf meines Lebens. Ich war überzeugt, dass er damit den Eintritt in die Partei meinte, und er hat es mir indirekt bestätigt. Ich, der überzeugte Kämpfer gegen das System, Mitglied einer schikanierten Familie in der „Kommunistischen“ Partei?! Das Opfer war gross, ich habe einige Freunde oder ihre Achtung verloren, empfand aber Professor Ps. Strategie als wichtiger. Diese Erzählung soll bestätigen, dass es auch innerhalb von scheinbar dem Bösen verfallenen Menschen auch solche gibt, die das Gute anstreben. Diese sind aber wahrscheinlich nicht sehr zahlreich.

Meine nächste Erfahrung könnte hingegen auf einen entscheidend grossen Anteil der russischen Bevölkerung zutreffen.

Durch Machenschaften, die nur in einem chaotischen System möglich sind, wurde ich für einen Studienaufenthalt in die Sowjetunion delegiert – ein Rätsel, weil sich an meiner Abstammung aus der „konterrevolutionären Familie“ ja nichts geändert hatte. Ein Studium in Moskau sollte eine ausserordentliche Belohnung ausschliesslich für die verdiente Systemtreue sein. Wie das passieren konnte, ist eine tragikomische Geschichte, die ich aber erst am Ende dieses Textes erzähle.

Ausgehend von der nervösen, angespannten Atmosphäre in meinem Land habe ich in Russland, dem Zentrum oder der Quelle des Ärgers, eine noch gereiztere Stimmung erwartet. Die überwiegende Mehrheit der Studenten wirkte aber auffallend ruhig und zufrieden – auch bei Details, auf die ich schon negativ reagierte. Zum Beispiel schockierte mich bereits beim Betreten des Studentenheimes, dass auf jedem Stockwerk Tag und Nacht Wache gehalten wurde. Meine erste Phantasie war, dass es dort so viele Regimegegner gebe, dass alle ständig beobachtet werden müssten.

Die nette, freundliche Studentin, die mich begleitete, verstand meine diesbezügliche Frage gar nicht. Die Wache habe eigentlich nichts zu tun, aber es ergebe doch eine sympathische Atmosphäre, wenn überall jemand kontrolliere, ob alles in Ordnung sei, nicht wahr? Sie gehe selber gerne Wache halten, man tue etwas für das Kollektiv, und es unterstütze auch das Gefühl der Gemeinsamkeit. Ein Kollektiv sei mehr als eine Mutter. (Der berühmte Ausdruck „za rodinu“ – „für die Heimat“ – mit dem russische Soldaten im Krieg selbstmörderisch tapfere Kämpfe bestanden, basiert auf dem Wort „rodina“, also Familie, Heimat, und enthält in der Wortwurzel auch die Geburt).

Vielleicht liegt hier der grosse Unterschied in den Mentalitäten. Wir in den westlichen Ländern sind bereits in der Schule mit Individualität, Konkurrenz und gegenseitigem Kräftemessen konfrontiert. Unsere Kinder erhalten Noten – ein zentrales Thema und die Quelle von ständigem Kampf – nicht nach dem absoluten Stand der Kenntnisse, sondern durch den Vergleich zu den Mitschülern.

In den Diktaturen steht das Thema Kollektiv und Heimatland (mit Betonung ihrer siegreichen Vergangenheit und grossen Anführer) über den Bedürfnissen der Individuen. Nach genügend langer Zeit der Prägung geht es in die „Natur“ der Menschen über. Gespeichert ist es ähnlich fest wie „drei und vier bleibt für immer sieben“.

Während der Wochen, bis ich durch einen geeigneten Genossen wieder ausgewechselt wurde, habe ich unter den Studenten nie einen Zweifel an der Regierung, am Regime oder an Stalin beobachtet. Ich glaube, sie wussten nichts von Konzentrationslagern und Millionen Opfern. Ein Versuch sie aufzuklären, hätte ziemlich sicher sofort zu einer Anzeige an die Geheimpolizei geführt.

Zurück in meinem Land (es hiess inzwischen Czechoslovakische sozialistische Republik, dessen Abkürzung – CSSR – der Bezeichnung der Sowjetunion – SSSR – immer mehr ähnelte), wartete ein paar Jahre später auf mich ein schweres „Dejavu“-Erlebnis: Mein Sohn kommt einmal aus dem Kindergarten und erzählt mir voll Begeisterung, dass sie ein neues Lied üben. Sie singen gemeinsam, wie schön es sei, in einem freien Land zu leben, aber nach jeder Strophe darf er, alleine, laut „Es lebe Genosse Stalin“ rufen. In diesem Moment tauchte in mir das inzwischen längst vergessene Bild vom Gesicht meines Vaters auf und ich habe begriffen, warum er vor zwanzig Jahren nicht zufrieden lächelte.

Die nächste Bestätigung der Prägung – in der vollen Bedeutung dieses Wortes – des russischen Volkes habe ich auf sehr beeindruckende Art erlebt. Im Prager Frühling mit Alexander Dubceks Vision des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ blühte in meiner Heimat, der Czechoslovakei, schnell eine Euphorie auf, verblühte aber unter den Panzern der Roten Armee. Zu kämpfen hatten wir keine Chance, auch besass niemand – mit Ausnahme der Miliz – eine Waffe.

Versucht haben wir es mit Argumentation. Dabei haben wir erfahren, dass die russischen Soldaten „frisch geprägt“ waren von der Behauptung, dass wir, das tschechische Volk, die Sowjetunion um Hilfe gebeten hätten, weil imperialistische Amerikaner versuchten uns vom richtigen Weg abzubringen.

Gewählt habe ich einen jungen Offizier. Mit meinem fast fliessenden Russisch habe ich gut gepunktet, meine Erinnerung an Moskau brachte ein Lächeln auf sein Gesicht, der Zufall half sogar, weil er den Park in der Nähe der Universität kannte. Er sprach mich als Genosse in Du-Form an.

Meine Versuche zu erklären, dass wir keine Hilfe brauchten und wollten, sowie umgekehrt, dass wir auf dem Weg waren, den sich die ganze Bevölkerung wünschte, versetzte ihn in echtes Staunen. Er schüttelte den Kopf und sagte, er sei ganz überrascht. Wir machten ab, dass ich am nächsten Tag wieder komme.

Als er mich dann erblickte, winkte er mir lebhaft zu und kam mir entgegen. Er sei froh, dass sich das Problem geklärt habe, es habe ihn beschäftigt. Dann zeigte er mir die russische Zeitung „Prawda“ (Wahrheit), mit einem Artikel, wie amerikanische Imperialisten versuchten, das tschechische Volk mit Lügen zu betrügen. Einzelne Agitatoren würden falsche Informationen verbreiten und wollten die brüderlichen Länder auseinander treiben. Zuerst strahlte er, dass er nun die Wahrheit und die Erklärung für unser Missverständnis gefunden hatte, plötzlich starrte er mich aber mit verändertem Gesichtsausdruck an. In Panik rannte ich durch die versammelten Massen weg.

Die Lehre aus diesem Fall ist klar: Die Prägung sitzt tief und fest. Im Zweifelsfall sind für die Mehrheit der Bevölkerung die Zeitung, die Partei-Informationen oder Regierungsnachrichten die Wahrheit. Ein misslungener Versuch, der Propaganda entgegen zu wirken, kann umgekehrt das „drei und vier gleich zwanzig“ noch mehr festigen.

Überraschenderweise konnte man während der wenigen folgenden Wochen relativ einfach mit Hilfe von gefälschten Dokumenten ein Visum zu einer kurzen Reise ins westliche Ausland bekommen. Unterwegs in die Freiheit begannen wir unserem Sohn behutsam zu erklären, dass die Sache mit der uneingeschränkten Dankbarkeit für den Genossen Stalin nicht vollumfänglich stimmt. Drei und vier gleich sieben gilt dagegen weiter.

Zum Abschluss und zur Entspannung noch eine kleine Geschichte, wie sich die Propaganda oft auch recht raffinierte Argumentationen einfallen liess. Zu den Grundbehauptungen über den Westen gehörte, dass das Volk dort überall knapp am Verhungern sei. Nachdem die Grenze wieder abgeriegelt war, kamen in den tschechischen Zeitungen Berichte, wie schlimm es insbesondere die Flüchtlinge treffe, die unüberlegt ihre „Heimat“ verliessen.

Das bewies ein ausgeklügelter Vergleich der Preise: eine Tramkarte sei in der Schweiz fast so teuer wie eine Tafel Schokolade! Das konnte einen Tschechen doch beeindrucken, weil in seinem Land die Schokolade, als Importprodukt, übermässig teuer war. Jedenfalls wirkte es sogar bei meiner Schwester, die sonst darin geübt war, Propaganda-Nachrichten korrekt zu lesen. Ihr erster Brief war voller Sorgen. Sie wollte mir eine Schachtel Konserven schicken.

Zuletzt noch die versprochene Erklärung, wie ein Konterrevolutionär in den Genuss einer Reise in das „Arbeiter- und Bauern-Paradies Russland“ kommen konnte. Die „kommunistische“ Partei etablierte ein dichtes Mitglieder-Netz. Es gab einen Partei-Ausschuss für die Fabrik und ihre Abteilungen, für die Stadt, die Stadtviertel, sogar für die Strasse. Sämtliche Entscheide mussten dann von allen Stufen dieser Hierarchie begutachtet und bewilligt werden.

Das galt natürlich auch für die Bewilligung der Studienreise nach Russland. Dabei konnte in diesem Fall kein Zweifel aufkommen, jemand sei gegen den Auserwählten. Denn er war ein überzeugter, aktiver Parteianhänger. Doch eine menschliche Regung kam dazwischen. Seine Mutter hielt Hühner (wie fast alle – Eier waren sehr teuer). Ihre Nachbarin, die gleichzeitig die Vorsitzende des Strassenausschusses war, setzte aber an jenem schicksalhaften Tag Gemüsesamen (Gemüse war auch teuer). Die Hühner reagierten auf ihre natürliche Art und pickten die Samen aus. Sehr zum Ärger der Gemüse-Nachbarin. Als sie auf dem Gipfel des Tobens war, erhielt sie die Post mit dem Antrag zur Bewilligung der Russlandreise des Nachbarsohnes. Ihr NEIN! bedeutete das Ende seiner Träume.

Die Universität musste nun sofort einen Ersatz für die Reise schaffen. Das Spektakel spielte sich aber während der Ferienzeit ab, und es waren keine Studenten auffindbar. Mit einer Ausnahme: dieser Konterrevolutionär! Der war eigentlich immer vorhanden. Seine Familie war sehr arm, und er arbeitete als Assistent auch während den Ferien. Somit blieb nur eine Wahl. Den Entscheid trafen die Hühner. Zu den Witzen des passiven Widerstandes gehörten auch solche über die Andeutung von „Hühner-Stall“-Qualität der führenden Regierungsorgane.