Beim Krieg in der Ukraine wird Präsident Putin als die Schlüsselperson betrachtet. Das stimmt auch: er «präparierte» seit Jahren das Volk mit intensiver Propaganda als Erben einer Grossmacht – zum Beispiel mit alten stalinistischen Sätzen wie «Der Schuh des russischen Soldaten wird von einem Meer zum anderen schreiten» oder «Wir sind als Nation genetisch vorgesehen zum Herrschen». Putin schaffte sich eine Schar von Anhängern, die zu allem bereit sind. Er weckte Ängste vor einer «aggressiven» Nato. Und er gab den Befehl zum Überfall auf die Ukraine.
Zu diesem «Schlüssel» haben wir leider keinen Zugang. Wir können ihn weder zu einer veränderten Handlungsweise überreden noch ihn in eine Psychotherapie schicken.
Es gibt aber noch einen anderen Schlüssel: das russische Volk selbst. Es besteht zwar teilweise aus den überzeugten Putinophilen, es geht aber nahtlos über in Profiteure und Mittäter sowie Mitläufer, in weniger oder gar nicht engagierte Menschen, normal denkende Bürger, bis zu den Nachkommen von Stalins Opfern oder mutigen Regimekritikern. Die genauere Zusammensetzung abzuschätzen, mag schwierig sein, sie ist aber weitgehend das Resultat von Putins Propagandafeldzug.
Das können wir in demokratischen Ländern oft nicht begreifen. Unsere Regierungen machen aus der Sicht von vielen Bürgern wiederholt «fatale» Fehler, es ist aber undenkbar, dass sie eine verächtliche Tat gegen den Willen des Volkes durchsetzen könnten. Wenn ein Volk einen Krieg zulässt, dann muss es gleich verdorben sein wie seine Regierung. Russlands Bevölkerung ist zwar durch die professionelle Gehirnwäsche «verdorben», aber genetisch potenziell gleich fähig vernünftig zu denken wie wir.
Das weiss Putin auch und betreibt deshalb einen enormen Propaganda-Aufwand, um die Aufklärung seiner Landsleute zu verhindern. Das kürzlich erlassene Gesetz, wonach ein falsches Wort in der Beschreibung der Lage zu 15 Jahren Haft führen kann, ist einer der Beweise dafür. Dadurch soll die Opposition zum Schweigen gebracht werden, bevor sie aktiv werden kann. Gleichzeitig wird das Land gegen Informationen aus dem Ausland abgeschottet.
Wenn die Stimmung der Bevölkerung in diesem Krieg so wichtig ist, müsste man erwarten, dass sich alle Engagierten darum kümmern, wir in den westlichen Ländern eingeschlossen. Vorläufig ist aber Putin der Einzige, der diesen Schlüssel hütet und pflegt. Hier machen wir einen Fehler. Zwar kritisieren wir Putin, äussern aber kaum unsere Einstellung zum russischen Volk. Dabei ist dieses eigentlich auch Opfer, vergiftet durch Gehirnwäsche und irregeführt in riskante Abenteuer.
Klare Botschaften fehlen, in denen wir im Westen so oft wie möglich betonen, dass niemand etwas gegen die russische Nation oder gegen die russischen Menschen als solche hat. Wir müssen Wege finden, wie wir sie über Putins kriminelle militärische Handlungen und über falsche Behauptungen informieren, die das Putin-Regime von westlichen Ländern verbreitet.
Ein Beispiel: Die Nato hat Russland zum Feind erklärt. Das ist sowohl richtig wie auch nötig. Es bestätigt unsere Geschlossenheit, und es entspricht der Realität. Im Ausdruck «Russland» ist aber die russische Bevölkerung inbegriffen. Putin freut sich sicher über diesen Akt. Denn bisher standen seine Versuche, das Volk von feindlichen Absichten der Nato zu überzeugen, auf wackeligen Füssen. Jetzt hat er das, was seine Propaganda schon lange brauchte. Hier fehlt eine klare Trennung: Wir im Westen halten Putins Krieg für einen feindlichen Akt, wollen aber die russische Bevölkerung nicht für Putins Handlungen verantwortlich machen. Wir bedauern die Lage der Menschen in Russland und würden ihnen gerne helfen.
Eigentlich wäre so ein Statement bei jeder unserer Aktionen gegen Putin angebracht. Als Beispiel werden sportliche und kulturelle Kontakte reduziert oder unterbunden. Das bestraft konkrete Menschen in Russland. Jede Absage, jede Sperre sollte gleichzeitig verständlich und eindeutig erklärt werden als ein Signal der weltweiten Empörung gegen Putins Krieg. Sie richten sich nicht gegen die Sportler oder Künstler. Dadurch lassen sich falsche Interpretationen vermeiden und gleichzeitig wahrheitsgetreue Informationen übermitteln.
Ist das realistisch? Gibt es Wege, um die Informations-Mauer zu durchdringen? Die Erfahrungen aus Stalins Diktatur mögen pessimistisch stimmen. Wenn aber alle unsere Aktionen und Nachrichten von einer klaren Differenzierung zwischen Putin und dem russischen Volk begleitet werden, haben wir eine Chance, dieses Ziel mit der Zeit zu erreichen. Dazu kommt, dass unsere Welt mit neuartigen sozialen Medien ausgestattet ist. Sprachbarrieren gibt es mit der Fülle von Übersetzungsprogrammen kaum mehr. Vor allem unsere junge Generation kann mit ihren Kommunikationsmitteln gewiss solche Kontakte mit ihren Freunden in Russland herstellen.
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